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Rensmann, Lars

Kritische Theorie über den Antisemitismus

Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität. Argument-Verlag, Berlin/Hamburg 1998. 386 Seiten.

Lars Rensmann rekonstruiert in seiner Monographie die Antisemitismusanalysen des inneren Kreises der „Frankfurter Schule“ — Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Marvin Löwenthal — im Horizont einer Hermeneutik der Aktualisierung. Die „Kritische Theorie“ sei anderen Deutungen des Antisemitismus nach wie vor überlegen. Die gegenwärtigen Diskurse blieben hinter der Schärfe und Weite ihrer Gesellschaftskritik zurück. Der Autor stellt damit einen Theoriebestand als innovativ hin, der faktisch auf breiter Fläche in die Geistes- und Sozialwissenschaften Eingang gefunden hat. Der autoritäre Charakter, die soziale Paranoia, die Vergesellschaftung des Vorurteils — diese und weitere Elemente der „Kritischen Theorie“ haben eine Erfolgsgeschichte hinter sich, die es unmöglich macht, sie für gegenstandslos zu erklären. Auch die Deutung des Antisemitismus im Rahmen einer universalen Theorie der modernen Welt, die mit der Aufklärung ihr Gegenteil hervorbringt, zählt längst zum intellektuellen Gemeingut. Das Kapitel Kritisch-theoretische Studien über den modernen Antisemitismus (38-229) ist eine synthetisierte Quersumme der „Kritischen Theorie“ unter dem Aspekt der Antisemitismusdeutung. „Die Studie setzt sich zum Ziel, auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie eine theoretisch reflektierte Analyse gegenwärtig bedeutsamer Formen und Motivationen des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland vorzubereiten“ (10). Die Konturen dieses Unternehmens werden in dem Kapitel „Kritisch-theoretische Studien über den sekundären Antisemitismus“ (231-335) sichtbar. Im Anschluß an Adorno ist sekundärer Antisemitismus definiert als „Motivationskomplex neuerer Judenfeindlichkeit, der sich nicht trotz, sondern wegen Auschwitz erstellt“ (231).

Wer die Prämissen des Autors zum „Post-Holocaust-Antisemitismus“ nicht in der von ihm verfochtenen theoretischen Rigidität teilt, wird seine Analysen als verzerrt empfinden. Gefangen in der Theorie von den entsubjektivierenden Folgelasten moderner Vergesellschaftung muß nach Rensmanns Ansicht auch die „Post-Holocaust-Gesellschaft“ jene Stigmata zeigen, welche die Holocaust-Gesellschaft zum Verbrechen trieben: nunmehr in den Formen des „sekundären Antisemitismus“ (Verdrängung, Relativierung, Erinnerungsabwehr u. a.). Die Konklusionen sind weitreichend. Wer in der Bundesrepublik den „sekundären Antisemitismus“ als gesellschaftliches Randphänomen ansehe, betreibe Verharmlosung. Solange jene Gesellschaftsordnung bestehe, deren Kritik in der „Kritischen Theorie“ betrieben werde, bleibe der Schoß des Antisemitismus fruchtbar. Erinnerungsverweigerung sei „kein Problem eines marginalen Rechtsradikalismus. Sie ist integrierter Teil der gesellschaftlichen ,Mitte‘ so sehr wie der Zentren staatlicher Gewalt“ (335). Die Aufstülpung der „Kritischen Theorie“ bekommt der vielschichtigen Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht gut. Wer nicht dem Deutungspfad Rensmanns folgt, vermag vor seinem Urteil schwer zu bestehen. Nur schade, daß er Analysen des Antisemitismus von Historikern wie Shulamit Volkov und Michael A. Meyer nicht erwähnt.

Kurt Nowak


Jahrgang 6/1999 Seite 300



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