„Ihr seid das Salz der Erde“ (Mt 5,13)
28. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Stuttgart (16.-20. Juni 1999)
Der 28. Deutsche Evangelische Kirchentag in Stuttgart wurde am Mittwoch, dem 16. Juni 1999 um 18.00 Uhr auf dem Schloßplatz von der Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke eröffnet. Ehrengäste waren der amtierende Bundespräsident Roman Herzog, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Erwin Teufel und Landesbischof Eberhard Renz. Sie standen einer nach vielen Zehntausenden zählenden Schar von Kirchentagsteilnehmer/innen gegenüber. Grußworte sprachen u. a. der Oberbürgermeister von Stuttgart, Dr. Wolfgang Schuster, und Weihbischof Johannes Kreidler, Bischofsvikar der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
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Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke und der amtierende Bundespräsident Roman Herzog bei der Eröffnung des 28. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Stuttgart. Foto: dpa |
Ein fünf Meter hoher Salzberg (400 t) sollte das Motto des Kirchentags versinnbilden und handgreiflich machen, bzw. in kleinen Portionen zum Mitnehmen ermöglichen. Das schmucke violette Kirchentagsband mit dem Jerusalemer Kreuz (in den vier Ecken eines großen Kreuzes jeweils noch ein kleines) ließ die Stuttgarter in den überfüllten U- und S-Bahnen, in den Bussen und auf den Straßen und Plätzen ihre Gäste mühelos erkennen. Die 96 514 Dauerteilnehmer, mit den Tagesgästen zusammen etwa 150 000, wären allein schon wegen ihres Alters aufgefallen: 20 Prozent unter 20 Jahren und 40 Prozent bis 40 Jahren, die übrigen bildeten die ältere Generation mit einem hohen Anteil an Frauen. Auch zahlreiche ausländische Gäste und Teilnehmer hatten sich eingefunden. Erwähnung verdienen die 25 000 Helfer/innen und Ordner/innen, auffallend freundlich in der Pfadfinder/-innen-Kluft.
Die Mammut-Veranstaltung hatte neben Innenstadt-Lokalen drei große Zentren: das Messe-Zentrum Killesberg, den Cannstatter Wasen mit drei Großzelten und einem Verpflegungzelt sowie die Schleyer-Halle und das Gottlieb-Daimler-Stadion, das Stuttgarter Fußball-Stadion.
Der Geist von Stuttgart tat sich in seiner Spannweite bei der Predigt von Landesbischof Eberhard Renz auf, als er daran erinnerte, daß nur von Jesus Christus unsere Kraft komme, das Salz dieser Erde zu sein, und in der frohen Gestimmtheit der Mitfeiernden, die manchmal fast wie in einem Open-air-Festival auf die spirituellen Impulse reagierten. Die alles unterfangende Technomusik trug hier wie bei allen nachfolgenden großen Veranstaltungen ihren Teil dazu bei. Schließlich wollte der Kirchentag als Fest auch einen musikalischen wie kulinarischen Anreiz bieten.
Der thematische Faden für die drei Tage schlang sich um die Bereiche: Zukunft des Glaubens, Zukunft des Menschen, Zukunft der Gesellschaft. Vor aller Vortrags- oder Podiumsarbeit an diesen Tagen geschah Bibelarbeit. In der Konsequenz und Breite ist diese Bibelarbeit, die jeden Morgen viele Menschen anzog, ein Spezifikum des Evangelischen Kirchentags. Nicht allein ordinierte Theologinnen und Theologen, Bischöfe und Professoren, sondern und gerade Personen aus Politik und Gesellschaft sowie Künstler übernahmen die Aufgabe der Bibelauslegung. Man hatte sich dazu eigens eine Kirchentagsübersetzung der Bibelstellen einfallen lassen in Gegenüberstellung zum Text der Lutherbibel (1984). An sich dürfte das Unternehmen legitim sein und für ein christliches Laientreffen angemessen. Ob allerdings die neue Version, die den Gottesnamen „der Herr“ mit „Adonai“ wiedergibt, sich in den Kirchengemeinden einbürgern wird, ist abzuwarten.
Neben den Themenbereichen 1-3 (s. o.) kam der Bereich „Lebendige Liturgie“ zu stehen. Korrespondierend zur Bibelarbeit begann man mit Morgengebeten und evangelischen Messen bzw. Gottesdiensten am Anfang und schloß mit Gebeten am Ende des Tages. Dieser weitläufige Bereich umfaßte neben manch anderem Bibelarbeit (Bibelkirche, Ökumenische Bibelwerkstatt), Bibliodrama, Bläserdienste, Einladung zum Glauben (Brennpunkt Gemeinde), Zentrum für Familie und Partnerschaft, Beat- und Kirchenmusik, Meditation/Gebet und offenes Singen.
Ein herausragendes Ereignis war am Freitag abend in knapp 200 Gemeinden in und um Stuttgart das Feierabendmahl. Im Vorfeld hatte es heftigen Streit gegeben wegen der Symbole anderer Religionen, die der Liturgieentwurf für das Feierabendmahl vorsah. In den pietistisch geprägten Gemeinden, aber auch in vielen anderen, wurde der Entwurf verändert: Die christliche Abendmahlsfeier müsse eindeutig sein. Hingegen fühlten sich in der feministisch-theologischen Basisfakultät die „zwölf heutigen Jüngerinnen“, darunter eine Katholikin, von den traditionellen Gottesdiensten nicht angesprochen. Aus dem Sättigungsmahl, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert habe, sei im Laufe der Geschichte ein von Männern verwaltetes Sakrament geworden; daß im Mittelpunkt des Abendmahls das Sühnopfer steht, sei ein Fehler. Äpfel und Käse beim Abendmahl?
Parallel zum Bereich „Lebendige Liturgie“ waren weitere wichtige Angebote die Zentren der Begegnung und Beratung (z. B. psychologische Beratung und Seelsorge) sowie zahlreiche Treffpunkte und Gute-Nacht-Kirchen. Bei den „Kommunikativen Treffpunkten“ ging es um jede Art von Musik und Theater. Der analog zu den drei Themenbereichen gegliederte „Markt der Möglichkeiten“ hatte 20 000 bis 50 000 Besucher täglich. Die „Marktbereich-Veranstaltungen“ boten Vorträge, Diskussionen und Aktionen. Der christlich-jüdische Dialog war mit der Thematik „Christentum im Dialog — Juden und Christen“ sowie mit „Messiaserwartungen im Judentum und Christentum“ präsent. In derselben Halle fand auch der Dialog zwischen Muslimen und Christen statt. Die Anwesenheit der Gruppe „Evangeliumsdienst für Israel e. V.“ (edi) als Gegenposition zur Judenmissions-Debatte (s. u.), hatte bereits im Vorfeld des Kirchentags zu Spannungen geführt.
Frieden für Europa
Die internen Interessen der Kirche waren mit der Veranstaltung zur Frage nach Krieg und Frieden überschritten. Das Treffen sollte „die kirchliche Friedensarbeit aus ihrem Dornröschenschlaf wecken und ihr neuen Schub verleihen“. Im Rahmen der Themen „Frieden für Europa“ und „Was steht auf der Tagesordnung für ein friedliches Europa?“ hielt der amtierende Botschafter des Staates Israel in Bonn, Avi Primor, ein nachdenklich/optimistisches Referat zum nahöstlichen Friedensprozeß. Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), der den Nato-Einsatz im Kosovo mit dem Verweis auf 72 mißachtete UN-Resolutionen zwischen 1991 und 1998 und auf das klägliche Versagen der UN-Schutztruppen beim Massaker in Srebrenica verteidigte, wurde nicht nur mit allerdings überwältigender Zustimmung, sondern auch mit dem Ruf „Mörder“ bedacht. Gegen die — wenn auch behutsam vorgebrachte — Kritik des Generalsekretärs des Ökumenischen Weltkirchenrats, Prof Dr. Konrad Raiser, Genf, Waffen seien kein legitimes Mittel der Menschenrechtspolitik und die Strafaktion gegen Milosevic sei gegen ein ganzes Land gerichtet gewesen und stünde auch völkerrechtlich auf wackeligen Füßen, wandte sich nicht nur Scharping, sondern auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Friedbert Pflüger. Der Nato-Einsatz sei die Antwort auf einen tatsächlichen Notstand gewesen, dem anders nicht hätte abgeholfen werden können.
„Erlaßjahr 2000“
Die Kampagne „Erlaßjahr 2000“ mit ihrer Botschaft an den Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten reihte sich erfolgreich in die übrigen Aktivitäten aus den Schuldner-Ländern ein. Siebzehn Millionen Unterschriften wurden von Erzbischof Oscar Rodriguez Maradiaga, Honduras, den in Köln tagenden Länderchefs überreicht. Letztere versprachen einen zumindest teilweisen Schuldenerlaß zu gewähren.
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Diskussionsrunde „Nein zur Judenmission“ mit K.Wengst, M.Tenné, H.Küenzlen und M.Stöhr (v. l.n.r.). Foto: epd |
Der Kirchentag war unter dem Stichwort „Globalisierung“ einer Frage von viel umfassenderer Tragweite nachgegangen, nämlich der mörderischen Weltordnung am Beispiel „Hunger in der Welt“, „Gewinner und Verlierer der Globalisierung“, u. a. m. Die Frage nach der Rolle der Kirchen in der Globalisierung wurde in einem Referat von Konrad Raiser mit folgender Podiumsdiskussion aufgegriffen. Der frühere Entwicklungsminister Erhard Eppler (SPD) lobte den Kölner Erlaß-Beschluß vor mehr als zehntausend Teilnehmern bei einer Parallel-Veranstaltung auf dem Stuttgarter Schloßplatz. An der Kundgebung zum Thema Schuldenerlaß beteiligte sich auch die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, Guatemala. Die evangelische Theologin Prof Dr. Dorothee Sölle, Hamburg, verwies auf das Alte Testament und seine Antwort auf die Fragen, die aus reinem Gewinnstreben und ökonomischer Machtkonzentration entstehen.
Das Projekt „Weltethos“, für das sich Hans Küng seit neun Jahren einsetzt, wurde von ihm selbst vertreten. Küngs Vision ist die Versöhnung der Religionen durch eine Einigung auf gemeinsame ethische Standards. „Nur ein Weltethos rettet den Globus.“
Nein zur Judenmission
Vertreter der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ haben zusammen mit etwa 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach heftigem Streit im Vorfeld eine Resolution verabschiedet, die ein klares Nein zur christlichen Mission unter Juden ausspricht. Die Auseinandersetzung wurde auf jüdischer Seite von Prof Dr. Micha Brumlik, Frankfurt, und auf christlicher Seite von Prof Dr. Klaus Wengst, Bochum, geführt. In Referaten und Diskussion kam man zum Ergebnis, daß die unseligen Zwangsbekehrungen von Juden durch Christen, von wenigen Andershandelnden wie z. B. Papst Gregor I. (Ende des 6. Jh.) und Philipp Jakob Spener (1635-1705) abgesehen, nicht im Sinn eines christlichen Freiheitsverständnisses waren. Der Hinweis auf die judenchristlichen Anfänge bzw. die dortige Mission der Kirche verfange in der Distanz zu heute nicht. Wengst leistete eine exakte Paulus-Exegese (Römerbrief), aus der resultierte, daß Paulus zwar beklagte, daß „vom Evangelium her gesehen, (sie) Feinde Gottes (sind), aber von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt ... unwiderruflich“ (vgl. Röm 11,28 f.). An diesem „zwar ... aber“ hat sich heutige Erkenntnis über die Heilsbedürftigkeit der Juden aus christlicher Perspektive zu orientieren. Juden stehen bereits im Heil. Christliche Mission kann sich deshalb nur den nichtchristlichen Völkern (Heiden-Völker) und, so Landesrabbiner Dr. Joel Berger, Stuttgart, „den Abtrünnigen aus den eigenen Reihen“ zuwenden. Mit auf dem Podium der von Prof Dr. Martin Stöhr, Bad Vilbel, moderierten Veranstaltung waren auch Oberkirchenrat Heiner Küenzlen, Stuttgart, und Meinhard Tenné, Vorstandssprecher der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg.
Jüdisch-christlicher Dialog
Im „Lehrhaus Judentum für Christen“, wie eine Reihe von Veranstaltungen benannt wurde, eröffnete Dr. Edna Brocke, Leiterin der Alten Synagoge in Essen, die Reihe „Bibelarbeit“. Fortgesetzt wurde sie von Prof Dr. Frank Crüsemann, Bielefeld, und Rabbiner Prof. Jonathan Magonet, London. In einer dreiteiligen Vortragsfolge referierten Prof Dr. Rolf Rendtorff, Heidelberg, zum Thema „Das Jüdische am Christentum“ und Dr. Channa Safrai, Jerusalem, über „Beten und Gebet im Judentum“. Edna Brocke und Prof Dr. Hans Peter Schwöbel, Mannheim, behandelten das wichtige Thema „Deutschland — normal nach Auschwitz?“. Mehr auf Praxis ausgerichtet war das Thema „Wie lesen Juden die Bibel?“, vorgestellt von Samy Dzialoszynski, Straßburg, und J. Magonet. Dem Kennenlernen jüdischen Glaubenslebens in Schule und Gemeinde widmeten sich der bekannte Religionsdidaktiker Prof Dr. Ingo Baldermann, Siegen, Pfr. Helmut Ruppel und die Lehrerin Ingrid Schmidt (beide Berlin). Oberkirchenrat i. R. Dr. Hans Maaß, Karlsruhe, referierte zum Streitthema „Judenmission — ein christlicher Irrweg!“ Aktuelle Probleme der deutschen jüdischen Jugend, thematisiert mit dem Stichwort „Zu Hause, keine Heimat?“ sowie die Bioethikdiskussion aus jüdischer Sicht, dargelegt von Rabbiner Dr. Israel M. Levinger, Basel, und das Angebot von Marta und Dan Rubinstein, Zürich, zu Reflexionen über Biblische Symbolik und Symbolgeschichten, rundeten die Fülle der Themen im „Lehrhaus“ ab.
Veranstaltungsleiter von „Lehrhaus Judentum für Christen“ war der im christlich-jüdischen Dialog bekannte Schuldekan Albrecht Lohrbächer, Weinheim, der auch zum Thema „Deutschland — normal nach Auschwitz?“ referierte. In einem anderen Zusammenhang, aber durchaus im Sinn der Förderung des christlich-jüdischen Dialogs, ist die von Prof Dr. Jürgen Ebach, Bochum, für den Kirchentag besorgte Auswahl von biblischen und rabbinischen Texten zum Thema „Er kommt zu richten den Erdkreis mit Gerechtigkeit“ (Ps 98,9) zu erwähnen.
Der Freiburger Rundbrief und der KoordinierungsRat der Deutschen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit waren mit einem gemeinsamen Informationsstand vertreten.
Ausblick
Über den 28. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart mit seinen rund 2300 Veranstaltungen konnte hier nur nach ausgewählten Gesichtspunkten berichtet werden. Die besprochenen „Reiz-Themen“ fanden auch ein entsprechendes Echo in der Tagespresse, was freilich nicht das alleinige Kriterium für ihre Bedeutsamkeit ist. Viele wichtige Vorgänge und Ereignisse auf dem Kirchentag bleiben nur den Zeugen und Mitfeiernden im Bewußtsein.
Die politische Prominenz aus Bonn/Berlin nahm aktiv an Veranstaltungen teil. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Prof Dr. Karl Lehmann, Mainz, predigte auf dem Kirchentag mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Akzeptanz, mit der auch der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Prof Dr. Hans Joachim Meyer, Dresden, sich engagierte. Der „Generationenknick“ war zwar sichtbar, doch glänzten nach wie vor die altbewährten Kirchentagsmänner und -frauen, wie z. B. Dr. Heinz Zahrnt und Pfr. Dr. Jörg Zink, und u. a. die Professorinnen Dr. Dorothee Sölle, Dr. Luise Schottroff und Dr. Elisabeth Moltmann-Wendel. Vertreter der theologischen Fakultäten in Tübingen, u. a. die Professoren Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel, und Heidelberg, Klaus Berger und Gerd Theißen, traten eher behutsam in Erscheinung. Der Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock, Düsseldorf, war bemüht, über den Rissen im Gefüge der Evangelischen Kirche es nicht zum Bruch kommen zu lassen.
Der Schlußgottesdienst mit einem festlichen Abendmahl am Sonntag und mit mehr als 100 000 Teilnehmern im Gottlieb-Daimler-Stadion entfaltete sich zu einem großartigen Zeugnis des Glaubens. Die Predigt von Superintendentin Gertraud Knoll, Eisenstadt/Österreich, über Mt 6,10, und das Wort der Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke, zeugten von der Entwicklung im Amtsverständnis in der evangelischen Kirche, eine Entwicklung, die in der designierten Bischöfin und noch amtierenden Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags, Dr. Margot Käßmann ihre Bestätigung findet.
Abschließend lud Kirchenpräsident Prof Dr. Peter Steinacker, Darmstadt, zum 29. Evangelischen Kirchentag im Jahre 2001 nach Frankfurt ein.
Jahrgang 6/1999 Seite 305