Die Schoa, dieses entsetzliche Ereignis, hat unser Volk einmal mehr zu einem Volk von Märtyrern gemacht. Der Psalmist hat wunderbare Worte für unsere Klage und unseren Glauben gefunden:
„Nein, um deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag, behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat“ (Ps 44,23). „Das alles ist über uns gekommen, und doch haben wir dich nicht vergessen, uns von deinem Bund nicht treulos abgewandt“ (Ps 44,18).
Als die katholische Kirche das absolut Entsetzliche entdeckte, als sie der eigenen Komplizenschaft, ihres Schweigens und der Schande gewahr wurde, die nun auf den europäischen Nationen lastete, und als sie begriff, daß sich dieses auf christlichem Boden, in einer führenden Kulturnation abgespielt hatte —, da bekannte sie ihre Schuld und zeigte Reue, auf hebräisch „teschuva“. Gleichzeitig dürfen wir nicht den exemplarischen Mut und die bewundernswerte Würde der „Gerechten unter den Nationen“ vergessen. Es ist vielmehr unsere Pflicht, dieser Frauen und Männer zu gedenken.
Unmittelbar nach dem Krieg, im Angesicht einer sprachlosen Welt, schufen unsere Brüder von neuem das Gelobte Land und machten Jerusalem wieder zu ihrer schönsten Augenweide. Sie bekräftigten damit ihre Treue zu dem Bundesversprechen, das vor drei Jahrtausenden am Fuße des Berges Sinai gegeben wurde. In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 bezogen sie sich ausdrücklich auf diesen Hausberg Israels.
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Rabbiner René-Samuel Sirat und der russisch-orthodoxe Metropolit Damaskinos Papandreou, Genf, anläßlich des ersten offiziellen Treffens zwischen Christen und Juden in Jerusalem vom 1.-4. Februar 1994 (dokumentiert in FrRu 1[1993/94]183-191). Foto: dpa |
Als fünfundvierzig Jahre später Rabin, Peres und Arafat das Osloer Abkommen unterzeichneten, schien der ideale Staat, von dem unsere Gründerväter geträumt hatten, für einen utopischen Augenblick wahr zu werden. Leider nur für einen Augenblick! Ein jüdischer Extremist und seine Komplizen töteten unsere Hoffnungen. Arabische Terroristen verwandelten die Plätze von Tel-Aviv und Ramat-Gan und die Straßen von Jerusalem in ein Meer von Blut. Das zerbrechliche Kanu von Oslo, um Präsident Ezer Weizmans Formulierung zu zitieren, ist in den Stromschnellen steckengeblieben. Statt dessen vernimmt man Bannflüche der Rabbiner gegen das Friedensabkommen, Verteidigungsreden hoher Minister für die Mitwisser des Rabin-Attentats und Gebete für den Mörder von Hebron, über dessen Grab inzwischen ein Mausoleum erbaut wurde. Und man mußte die mörderischen Parolen („Tod den Arabern!“) mit anhören, die Anhänger der rechtsextremen Studentenorganisation „Ateret Cohanim“ am 6. Juni 1998 skandierten — in Gegenwart des Premierministers [Netanyahu, Anm. d. Red.] und jener Rabbiner, die ihnen die Tora vermitteln. Keine dieser Autoritäten brach damals in Empörung aus, von schärferen Sanktionen ganz zu schweigen. Eine Geste der kollektiven Teschuva ist in vielerlei Hinsicht notwendig.
Das orthodoxe Judentum und seine geistlichen Autoritäten stehen auch vor großen Aufgaben in bezug auf den Status und die Rolle der modernen gläubigen Frau in der jüdischen Gesellschaft. Unsere Schwestern, Ehefrauen und Töchter haben sich aus eigener Kraft (und leider ganz ohne unsere Hilfe, wenn nicht sogar gegen unseren Willen) ihre Gleichberechtigung erkämpfen müssen. Die jüdische Frau nimmt heute am politischen und gesellschaftlichen Leben teil. Doch in der Synagoge — welchen Platz nimmt sie da ein? Alte Bilder aus der Zeit des ersten Oberrabbiners von Palästina, Rav Kook, zeigen Männer und Frauen noch dicht nebeneinander vor der Klagemauer. Sind wir „religiöser“ als unsere Väter oder Großväter?
Ich muß eingestehen, daß ich als Rabbiner und Akademiker oft zu einer Haltung gezwungen war, die an Schizophrenie grenzte. Als Leiter der größten Fakultät für jüdische Studien in Westeuropa habe ich die Karrieren meiner weiblichen Kolleginnen wo immer möglich unterstützt. Als Oberrabbiner von Frankreich und Präsident des Direktoriums des Rabbinerseminars von Frankreich habe ich hingegen kläglich versagt. Meine Vorschläge für eine progressive Änderung unseres Denkens und Handelns wurden nicht umgesetzt. Warum haben wir es versäumt, die Zeremonie der Bat Mitzwa („Tochter des Gebotes“) zu reformieren?
In einer ständig sich wandelnden Gesellschaft erhält der dreizehnjährige Junge bei der Bar Mitzwa alle Ehren, während die zwölfjährige Schwester mit einer dürftigen Feier abgespeist wird, obwohl doch auch sie in die Gemeinschaft Israels aufgenommen werden soll.
Und mit welchem Recht wollen wir unseren Schwestern, die an der Universität Vorlesungen halten, verwehren, in der Synagoge zu predigen? Der Talmud und die mittelalterliche Tradition kennen genügend Beispiele für hochbegabte Frauenpersönlichkeiten. Es gibt jenen Rabbiner, der die Mischna kodifizierte und so anständig war, einzugestehen, daß er die Deutung eines Jeremia-Verses seiner Dienstmagd verdankte. Sie wußte, was „Matate“ (Besen) bedeutete. Und es gibt das vornehme Beispiel der biblischen Debora, die zur obersten Richterin Israels ernannt wurde. Kann das religiöse Gesetz, die Halacha, sich bis in alle Ewigkeit diesen großen Vorbildern versperren?
Die Einheit des israelischen Volkes kann nur dann wiedergewonnen werden, wenn wir die ideologischen Spaltungen überwinden. Der Ultraliberalismus, wie er in den Vereinigten Staaten praktiziert wird, ist eine Sackgasse; wir müssen nach anderen Mitteln und Wegen suchen, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Vor allem aber bedarf es der Teschuva, weil die Mehrheit des Volkes das Studium der jüdischen Tradition vernachlässigt hat. Denen, die sich selbst als weltliche Agnostiker ansehen, kann ich nur raten: Kehrt um, macht Teschuva, studiert die Tora, selbst wenn ihr nicht alle religiösen Gebote (Mitzvot) beachtet. In der Tora findet ihr Antwort auf die Fragen, die uns bedrängen, nachdem rechte und linke Ideologien nur große Verwirrung zurückgelassen haben. Verbaut wenigstens euren Kindern nicht den Zugang zu jener Tradition, von der ihr euch selbst abgeschnitten habt. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (vgl. Deut 8,3).
Seit meiner Jugend verstehe ich mich als Zionist, ich war es schon vor der Gründung des Staates Israel und bin darauf stolz. Mit der sogenannten post-zionistischen Welle habe ich nichts zu schaffen. Der Zionismus kann auf große Leistungen zurückblicken, die uns nicht beschämen, sondern im Gegenteil stolz machen sollten. Die Wiedergeburt der hebräischen Sprache ist ein Wunder. Bis zum heutigen Tag ist es keinem anderen Volk und keiner Nation gelungen, eine Sprache wiederzubeleben, von der nur noch „trockene Knochen“ und alte, ehrwürdige Schriften übrig waren. Auch gelang es dem Zionismus, Juden aus siebzig verschiedenen Weltregionen zu integrieren. Aus einem Magma von Traditionen und fundamental entgegengesetzten Lebensformen entstand ein Volk, das mit den modernsten Techniken arbeitet, eine wehrhafte Nation, die ihr Land zu verteidigen weiß. Es entstand ein Land, in dem nach mühseligen, entbehrungsreichen Anfängen Milch und Honig fließen (vgl. Ex 3,8.17).
Die Transformation des jüdischen Menschen ist ebenfalls ein spektakulärer Erfolg. In den Jahrhunderten des Mittelalters waren den Juden viele Berufe verschlossen. Das führte zu einer Überspezialisierung auf bestimmte Professionen. Es war ein Unding, daß gerade diese Tatsache zu einem der am häufigsten genannten Gründe für den Judenhaß wurde. Die Bauern und die Rabbiner, welche die Vorschriften über die siebenjährige Brache und das Jobeljahr modernisiert haben, sind sich inzwischen einig, daß die Sabbatgebote mit dem notwendigen Fortgang öffentlicher Versorgungsbetriebe vereinbar sind. Dies haben wir dem Zionismus zu verdanken. Es war eine Revolution im vollen, guten Sinne des Wortes.
Die Tora vermittelt uns auch Regeln für das Zusammenleben mit Fremden, mit nichtjüdischen Mitmenschen. An nicht weniger als sechsunddreißig Stellen schärft sie uns ein: „Du sollst den Fremdling lieben wie dich selbst“ (vgl. Lev 19,34). Angesichts der Präzision des biblischen Textes hat dieser Nachdruck großes Gewicht. Der Staat Israel, gegründet auf das Projekt der Heimkehr und der Erlösung des Gelobten Landes, sollte an dieser moralischen Verpflichtung gemessen werden. Was Ezechiel anläßlich der Landverteilung unter den neugegründeten Stämmen über die große Heimkehr sagt, ist noch immer aktuell:
„Dieses Land sollt ihr unter die Stämme Israels aufteilen. Ihr sollt es als Erbbesitz unter euch und unter die Fremden verlosen, die bei euch leben und die bei euch Söhne und Töchter gezeugt haben. Sie sollen für euch wie einheimische Israeliten sein und sollen sich mit euch zusammen ihren Erbbesitz mitten unter den Stämmen Israels erlosen. In dem Stamm, bei dem der Fremde lebt, sollt ihr ihm seinen Erbbesitz zuteilen — Spruch des Herrn“ (Ez 47,21-23).
In dieser Hinsicht hat der Zionismus versagt. Golda Meir war der Ansicht, daß ein palästinensisches Volk nicht existiere. Erst Schimon Peres sah es schließlich als schweren moralischen Fehler, den Palästinensern die Existenzberechtigung abzusprechen. Als Jude konnte er es nicht länger ertragen, daß sein eigenes Volk ein anderes Volk unterdrückte. Die Rabbiner bleiben zu einem Schuldbekenntnis gegenüber den Palästinensern verpflichtet. Es ist die Pflicht Israels, nutzloses Leiden zu vermeiden und das Volk zur Teschuwa aufzurufen. Dies entbindet uns keineswegs der Pflicht, das bedrohte Israel zu verteidigen. Es gibt keinen heiligen Krieg. Nur der Friede ist heilig. Aber Frieden kann nicht einseitig sein. Wenn der Feind uns vernichten will, dürfen wir alle verfügbaren Verteidigungsmittel gebrauchen und auch den Tod des Angreifers in Kauf nehmen.
Nach den Schrecken der Schoa haben die Völker der Welt die Zeichen einer wahren Teschuva manifestiert. Umgekehrt erwarten sie, bewußt oder unbewußt, daß auch Israel wieder jenes „weise und kluge Volk“ werde, von dem die Bibel spricht (vgl. Deut 4,6). Nach dem Ende der Ideologien kann das Volk der Märtyrer wieder zum Volk des Wortes, zum Volk der Botschaft, zum Volk der Ethik, zum „Licht der Völker“ werden (vgl. Jes 49,6).
Als die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes für Kriegsverbrechen angekündigt wurde, hätte sich auch Israel dieser Initiative anschließen müssen. Aus innenpolitischen Gründen hat Israel jedoch gegen diese Gründung gestimmt. Der „lebendige Odem“ (vgl. Ez 37,14), der visionäre Geist der Propheten, wird überschattet von Problemen täglichen Überlebens. Gleichwohl ist ein neuer Geist notwendig. Die Welt erwartet dies von uns. Dann werden die göttlichen Versprechen wahr, denn sie können nicht annulliert werden (vgl.1 Sam 15,29).
Unsere Teschuva, gefolgt von der Teschuva der Menschheit, wird Frieden und Harmonie in Ewigkeit herbeiführen. Der Messias wird auf dem Rücken eines Maultiers in die Heilige Stadt einziehen (vgl. Sach 9,9), in das Jerusalem der Gerechtigkeit, der Treue, der Heiligkeit, der Brüderlichkeit und des Friedens (vgl. Sach 8,3). Erst dann wird Israel den Willen Gottes erfüllt haben „und ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk“ sein (Ex 19,6).
Aus dem Englischen von Matthias Grässlin.
Rabbiner René-Samuel Sirat stammt aus Algerien. Von 1981 bis 1987 war er Oberrabbiner von Frankreich, dann Vorsitzender der europäischen Rabbinerkonferenz. Jetzt ist er Grand Rabbin du Consistoire. Zusammen mit Kardinal Jean-Marie Lustiger von Paris erhielt Rabbiner René-Samuel Sirat 1998 den Preis für besondere Verdienste im interreligiösen Dialog des Zentrums für christlich-jüdische Verständigung an der Sacred Heart University, Fairfield, USA. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte die Ansprache Sirats am 11. Januar 1999. Wir bringen die Rede in einer leicht gekürzten Form.
Jahrgang 7/2000 Seite 10