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Clemens Thoma

Holländische Kirchengemeinschaften gegen Judenvertreibungen: 1942

1. Proteste, Bibeldeutungen und Gebete

Am 14. Juli 1942 wurden in Amsterdam ca. 700 Juden bei Razzien verhaftet. Damit wollten die Nazibesatzer Druck auf den holländischen Judenrat ausüben, innerhalb einer Woche 4000 Juden für die Deportation in deutsche Arbeitslager zu bestimmen. Drei Tage zuvor (am 11. Juli) hatten zehn verschiedene Kirchen ein Telegramm zur Abwehr der Judenvertreibungen an die deutsche Besatzungsmacht gesandt: die Vertreibungsverordnung dürfe nicht durchgeführt werden. Am 20. Juli 1942 gab die holländische katholische Bischofskonferenz einen Hirtenbrief heraus, der am 26. Juli in allen katholischen Kirchen vorzulesen sei. Dieses Schreiben war in der ersten Julihälfte erfaßt und verbessert worden. Der Hirtenbrief sollte, ebenso wie das Telegramm, auch die Unterschrift der Evangelischen Kirchen tragen. Es kam aber zu keiner Einigung über den Wortlaut des Schreibens. Die Hervormde Synode der Evangelischen Kirchen verfaßte daher am 11. Juli anstatt des Hirtenbriefes ein Gebet, das am 26. Juli, zusammen mit der Verlesung des mit den Katholiken gemeinsam verfaßten Telegramms, in den Kirchen gesprochen werden sollte. Im Verlaufe des Monats Juli fanden außerdem mehrere gemeinsame persönliche Rücksprachen katholischer und evangelischer Repräsentanten bei den Nazibehörden statt (Erzbischof J. de Jong, H. J. Dijckmeester, Vizesekretär der Hervormde Kerk u. a.).

Die Besatzer reagierten besonders grausam auf die „Frechheit“ der katholischen Bischöfe (öffentliche Verlesung des Telegramms und Kommentar). Am Sonntag, dem 2. August 1942, wurden (möglichst) alle katholisch getauften Juden — insgesamt 245 Menschen — und auch eine nicht genau bestimmbare Anzahl von Protestanten, die eine jüdisch-christliche Ehe führten, verhaftet, nach Amsterdam und dann in das Lager Westerbork transportiert. Am Freitag, dem 7. August fuhr ein verschlossener Eisenbahntransport mit insgesamt 722 Jüdinnen und Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auch Edith Stein (1898-1942) war unter ihnen. Leider war der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe in deutscher Übersetzung bislang kaum greifbar. Dasselbe gilt für das parallele Schreiben der evangelischen Kirchen. Deshalb werden hier beide Dokumente wiedergegeben und kommentiert.1

Der Widerstand gegen Hitlers Judenverfolgungen in Holland war also auch von christlich-ökumenischem Geist inspiriert. Als solcher verdient er es, der heutigen Nach- und Umwelt vorgezeigt und für sie interpretiert zu werden.2

2. Hirtenbrief der katholischen Bischöfe und ökumenisches Telegramm: 20. Juli 1942

Liebe Gläubige!

Wir erleben eine Zeit großer Not, sowohl auf dem geistlichen wie auf dem materiellen Gebiet. Dabei drängen sich in der letzten Zeit vor allem zwei Nöte in den Vordergrund, die Not der Juden und die Not derer, die im Ausland zur Arbeit verpflichtet werden.

Dieser Not müssen wir uns alle tief bewußt werden: Darum werden sie durch dieses gemeinsame Hirtenschreiben ins Bewußtsein gerufen.

Diese Nöte müssen auch denen zur Kenntnis gebracht werden, die die Befehlsgewalt über diese Menschen ausüben: Darum hat sich der Hochwürdige Niederländische Episkopat in Vereinigung mit fast allen Kirchen in den Niederlanden an die Autoritäten der Besatzungsmacht gewandt; für die Juden unter anderem am Samstag, den 11. Juli des Jahres, in einem Telegramm folgenden Inhaltes:3

Die hier unterzeichnenden Niederländischen Kirchen, tief erschüttert durch die Verordnungen gegen die Juden in den Niederlanden, wodurch diese von der Teilnahme am normalen Volksleben ausgeschlossen werden, haben mit Entsetzen Kenntnis genommen von den neuen Verordnungen, wodurch Männer, Frauen, Kinder und ganze Familien weggeführt werden sollen ins Deutsche Reich und die besetzten Gebiete.
Das Leid, das dadurch über Zehntausende gebracht wird, das Bewußtsein, daß diese Verordnungen dem tiefsten sittlichen Empfinden des Niederländischen Volkes widerstreiten, und vor allem das Widerstreben dieser Verordnungen gegen das, was Gott als Forderung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit aufgestellt hat, zwingt die Kirchen, an Sie die dringende Bitte zu richten, diese Verordnungen nicht zur Ausführung zu bringen.

Für die Christen unter den Juden wird uns diese dringende Bitte überdies noch eingegeben durch die Erwägung, daß ihnen durch diese Verordnungen die Teilnahme am kirchlichen Leben abgeschnitten wird.

De Nederlandsche Hervormde Kerk
Aartsbisschop en Bisschoppen der Roomsch-Katholieke Kerk in Nederland
De Gereformeerde Kerken in Nederland
De Christelijk Gereformeerde Kerk in Nederland
De Algemeene Doopsgezinde Societeit
De Remontstrantsche Broederschap
De Gereformeerde Kerken in Nederland in Hersteld verband
De Gereformeerde Gemeenten in Nederland
De Evangelisch Luthersche Kerk in het Koninkrijk der Nederlanden
De Hersteld-Evangelisch Luthersche Kerk in het Koninkrijk der Nederlanden.

Dieses Telegramm hat jetzt zur Folge gehabt, daß durch einen der Generalkommissare im Namen des Reichskommissars zugesagt wurde, daß die Christenjuden nicht weggeführt werden sollen, soweit sie vor Januar 1941 zu einer der christlichen Kirchen gehörten.4

Liebe Gläubige, wenn wir das entsetzliche geistliche und körperliche Elend betrachten, das jetzt schon fast drei Jahre die ganze Welt mit Vernichtung bedroht, so denken wir wie von selbst an das Ereignis, das uns im Evangelium geschildert wird.

„In jener Zeit, als Jesus in die Nähe von Jerusalem kam und die Stadt vor sich liegen sah, weinte Er über sie und sprach: Ach, möchtest du wenigstens an diesem Tage noch einsehen, was dir zum Frieden dient! Aber jetzt ist das vor deinen Augen verborgen. Denn es werden Tage über dich kommen, wo deine Feinde dich mit einem Wall umgeben werden, sie werden dich umzingeln und von allen Seiten in die Enge treiben; sie werden dich und deine Kinder in deinen Mauern zu Boden schlagen, und sie werden bei dir keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit der Gnade nicht erkannt hast“ (Lk 19,41-44).

Diese Weissagung Jesu ist buchstäblich in Erfüllung gegangen: Vierzig Jahre später wurde das Gottesgericht über die Stadt Jerusalem vollzogen. Sie hatte leider die Zeit der Gnade nicht erkannt.

Erzbischof J. de Jong Foto: Aartsbisdom Utrecht

Auch jetzt weist alles um uns herum auf ein Strafgericht Gottes hin. Aber Gottdank, für uns ist es noch nicht zu spät. Wir können es noch von uns abwenden, wenn wir die Zeit der Gnade erkennen, wenn wir jetzt noch einsehen, was uns zum Frieden dient. — Und das ist allein die Rückkehr zu Gott, von dem ein Teil der Welt sich bereits jahrelang abgewandt hat. Alle menschlichen Mittel sind umsonst gewesen: Gott allein kann noch Hilfe bringen.

Liebe Gläubige, gehen wir an erster Stelle in uns selbst mit einem tiefen Gefühl der Reue und Demut. Sind wir denn selber nicht auch mitschuldig an den Katastrophen, die uns heimsuchen? – Haben wir immer zuerst das Reich Gottes gesucht und seine Gerechtigkeit? – Haben wir immer die Pflichten der Gerechtigkeit und Nächstenliebe gegen unseren Mitmenschen geübt? – Haben wir nicht vielleicht Gefühle unheiligen Hasses und der Verbitterung genährt? Haben wir wohl immer unsere Zuflucht gesucht bei Gott, unserem himmlischen Vater?

Wenn wir in uns gehen, dann werden wir erkennen müssen, daß wir alle gefehlt haben. Peccavimus ante Dominum Deum nostrum: Wir haben gesündigt vor dem Herrn unserem Gott.

Doch wir wissen auch, daß Gott ein reuevolles und demütiges Herz nicht verschmäht. Cor contritum et humiliatum non despicies. Und darum wenden wir uns zu Ihm und bitten Ihn um Erbarmung voll kindlichem Vertrauen. Er selbst sagt es uns: ,Bittet und ihr werdet empfangen, suchet und ihr werdet finden, klopfet an und es wird euch aufgetan werden‘ (Mt 7,7).

Im Introitus der heiligen Messe von heute ruft die Kirche es uns zu mit den Worten des Psalmisten: ,Siehe, Gott ist mein Helfer. Es ist der Herr, der mein Leben erhält‘ (Ps 54,6). – Und in der Epistel wiederholt sie die so trostvollen Worte des Apostels: ,Keine Prüfung möge euch treffen, die nicht menschlich ist; doch Gott ist getreu und Er wird nicht zulassen, daß ihr geprüft werdet über eure Kräfte; sondern mit der Prüfung wird Er auch Hilfe geben, damit ihr sie bestehen könnt‘ (1 Kor 10,13).

Darum, liebe Gläubige, flehen wir zu Gott, durch die Fürsprache der Mutter der Barmherzigkeit, daß Er der Welt bald einen gerechten Frieden schenken möge. Daß Er das Volk Israel, das in diesen Tagen so bitter geprüft wird, stärken möge und es zur wahren Erlösung in Christus Jesus bringen möge. Daß Er jene beschirmen möge, deren Los es ist, in der Fremde zu arbeiten und fern von den Lieben daheim zu leben. Er möge sie beschirmen an Leib und an Seele, sie bewahren vor Verbitterung und Mutlosigkeit, sie treu erhalten im Glauben und Gott möge auch ihre zurückgebliebenen Angehörigen stärken. Flehen wir zu Ihm um Hilfe für alle Geprüften und Unterdrückten, für Gefangene und Geiseln, für so viele, über die die Wolken der Drohung und Lebensgefahr hängen. — Pateant aures misericordiae tuae Domine, precibus supplicantium: Mögen die Ohren Deiner Barmherzigkeit offen stehen den Gebeten der Flehenden (Ps 65,3).

Dieses unser gemeinsames Hirtenschreiben soll am kommenden Sonntag, dem 26. Juli, in allen zu unserer Kirchenprovinz gehörenden Kirchen und in allen Kapellen, für die ein Rektor angestellt ist, in allen festgesetzten heiligen Messen in der gewohnten Weise verlesen werden.

Gegeben zu Utrecht, am 20. Juli im Jahre des Herrn 1942.

Dr. J. de Jong, Erzbischof von Utrecht,
P. A. W. Hopmans, Bischof von Breda,
Dr. J. H. G. Lemmens, Bischof von Roermond,
J. P. Huibers, Bischof von Haarlem,
W. P. A. M. Mutsaerts, Bischofskoadjutor von ‘s-Hertogenbosch.

3. Schreiben der „Hervormde Synode": 11. Juli 1942

Dem nachstehend zitierten Gebetstext wurde teilweise das oben abgedruckte „Telegramm“ beigelegt, obwohl die Nazis die Vertreter der Hervormde Synode gewarnt hatten, das Telegramm nicht beizulegen, da andernfalls Strafsanktionen gegen die Juden und die Judenchristen verhängt würden. Die reformierten Gemeinden wurden in dem Schreiben ermahnt, die Nöte der jüdischen Gemeinde vor Gottes Angesicht zu bringen. Der Gottesdienst am 26. Juli war als eine Stunde des Gebetes und der Demut bestimmt. Der Gebetstext lautete:

Hoher und heiliger Gott, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Vater unseres Herrn Jesus Christus, dessen Urteile über die Erde gehen, wir stehen vor Dir in unserer großen Not. Wir wollen nicht nur über so viel Leid klagen, wodurch deine Menschenkinder verwundet werden. Wir wollen auch nicht nur die beklagen, die von diesem Leid besonders schwer getroffen sind. Wir bitten Dich, daß Du uns bewahren willst, damit wir nicht nur andere anklagen, sondern zuallererst uns selber. Führe uns durch Deinen Heiligen Geist, daß wir vor allen Dingen und in allem über unsere eigenen Sünden klagen.

Es sind unsere Sünden, die Sünden des Landes und des Volkes, unserer Kirche und Gemeinde, unserer Familien und aller Menschen, die Deine Urteile mit Recht über uns gebracht haben. Wir haben selbstzufrieden und in Beruhigung gelebt, in Übermut und in Eigenwahn, in weltlicher Gesinnung und in Vergnügungen, in Doppelherzigkeit und in Doppeldeutigkeit des Lebens, auch im Schein der Gottesfurcht und Tugendhaftigkeit, und wir haben dabei das Recht, das Du auf uns hast und das unsere Nächsten in Deinem Namen von uns erwarten, vergessen und zertreten. Wir haben mit Deinem Recht und Gesetz, mit Deiner Heiligkeit und Liebe, mit dem köstlichen Blut Christi und der Salbung Deines heiligen Geistes nicht Ernst gemacht.

Und jetzt sind Deine Urteile gekommen. Gib, daß sie uns zur inneren Umkehr bringen mögen, persönlich und als Gemeinschaft. Nimm dazu aus unseren Herzen jede Wurzel der Bitterkeit weg, lösche jede Flamme des unheiligen Hasses und lehre uns, daß wir uns beugen vor Dir in der Gemeinschaft von Sünde und Schuld mit allen Menschen, auch mit jenen, denen Du erlaubt, uns zu erniedrigen und zu züchtigen. Wir beten auch für sie um Bekehrung.

Lehre uns das anzunehmen und zu tragen, was Du uns auferlegst, solange es Dir behagt uns zu strafen, weil wir es verdient haben. Lehre uns zu glauben, daß bei Dir Vergebung ist für die, die aufrichtig ihre Sünden vor Dir bekennen. Lehre uns zu glauben, daß Du uns durch Deine Urteile doch zu Dir ziehen willst und uns wahrhaftige Sicherheit und Frieden finden lassen willst in Deiner Gemeinschaft, trotz allem was uns drückt und droht. Lehre uns zu glauben, daß Du ein Gott bist, der seine Wunder tut, der Barmherzigkeit und Recht siegen läßt, Du, bei dem Antworten sind auch gegen den Tod.

Insbesondere bringen wir das Volk Israel, das in diesen Tagen so schwer geprüft wird, vor Dich. Du hast es nicht für immer verstoßen, denn bei Dir sind lebendige Verheißungen für seine Zukunft. Hilf ihnen, zu bestehen. Bring sie zur Bekehrung, damit sie die wahrhaftige Erlösung bekommen mögen, die Du in Christus, Deinem Sohn geschenkt hast. Insbesondere beten wir für die Kinder Israels, die durch denselben Glauben mit uns verbunden sind. Schenk ihnen die Kraft, ihr Kreuz zu tragen, in der Nachfolge dessen, in dem sie ihre Erlösung gefunden haben.

Unser Inneres drängt uns, alle vor Dich zu bringen, deren Schicksal es ist, in der Fremde, getrennt von ihren Lieben, leben und arbeiten zu müssen. Kräftige sie an Leib und Seele. Bewahre sie vor Verbitterung und Rache, vor Mutlosigkeit und Resignation, vor Entfremdung und Verrohung. Gib, daß sie in ihrer Einsamkeit an Dir und Deinem Wort festhalten. Bewahre die Familien, die sie zurückließen und laß sie gemeinsam verbunden bleiben in der Gemeinschaft des Glaubens.

Schenke Hoffnung, o gnädiger Gott, allen schwer Geprüften und Unterdrückten, den Gefangenen und Geiseln, den vielen, über denen schwarze Wolken der Drohung und Lebensgefahr sind. Zeige Deine Macht, offenbare Dein Recht, laß Deine Liebe ihr wunderbares Werk tun. Schicke Deine Urteile so, daß sie Segnungen werden, daß viele, die ohne Dich leben, zu Dir sich wenden, daß die trennende Wand zwischen Israel und den Völkern abgebrochen wird, daß alle, die Deinen heiligen Namen bekennen, sich in Dir auch als Brüder suchen und finden mögen, und daß es eine Herde und einen Hirten geben wird. Wecke in unseren Gemeinden und in Deiner ganzen Kirche einen aufrichtigen Hunger und Durst nach Deinem Wort und Geist. Lehre uns die Dinge suchen, die droben und nicht auf der Erden sind. Hilf in aller Not, auch in der des täglichen Brotes. Schenk uns Geduld. Gib uns guten Mut, stähle unsere Kraft und gib uns eine Hoffnung, die nicht beschämt. Mach uns schwach in uns selber, damit wir kräftig sein mögen in Ihm, der für uns das Kreuz und die Schande ertragen hat und nun zu Deiner Rechten sitzt, Er, der der König der Zeiten ist, dem die Zukunft gehört, wozu Deine Kirche sich ausstreckt, wenn Dein Name geheiligt, Dein Reich gekommen und Dein Wille geschehen wird, wie im Himmel so auf Erden. Erhöre uns, o Gott, um Jesu willen. Amen.

4. Kommentar

Die Dokumente der katholischen und der reformierten Kirche haben etwa 100 000 holländische Juden, im besonderen aber die Judenchristen im Blickfeld. Ihre Verfolgung und Vertreibung war bereits angelaufen. Beide Kirchen legen ein christliches Schuldbekenntnis ab: Das Schreiben der „Hervormde Synode“ bezieht indirekt auch den christlichen Antisemitismus in das Schuldbekenntnis ein: „... lösche jede Flamme des unheiligen Hasses ...“ In beiden Dokumenten wird um Verzeihung von Schuld gebeten. Beide Dokumente stehen aber auch in der Tradition der Judenmission! Die kirchlichen Verantwortlichen glaubten vermutlich, die Hoffnung auf die Bekehrung der Juden zum Christentum könne auch die Nazis beeindrucken, so daß sie das holländische jüdische Volk verschonen würden.

Die Reaktion auf den Hirtenbrief der niederländischen katholischen Bischöfe und auf das Schreiben der Verantwortlichen der evangelischen Kirchen ergibt sich aus dem Geheimbrief von SS- und Polizeiführer Rauter vom 24. September 1942 an Himmler:5

Der Utrechter Erzbischof Johannes de Jong war vor seinem Amtsantritt Professor für Kirchengeschichte. Er wurde an Weihnachten 1950 zusammen mit dem Berliner Erzbischof Konrad von Preysing, mit dem ungarischen Primas Józse f Mindszenty, dem Krakauer Erzbischof Adam Sapieha und anderen von Papst Pius XII. zum Kardinal ernannt. Ein Vergleich, besonders mit dem Berliner Kardinal Konrad von Preysing, ist hier angebracht: Beide Kardinäle haben Pius XII. beschworen, die Judenvernichtung unmißverständlich zu verurteilen.6 Beide erhielten keine päpstliche Antwort.

Verschiedenes am Hirtenbrief der katholischen Bischöfe ist aus heutiger Sicht zu kritisieren. Die neutestamentliche Begründung (Lk 19,41-44) für das Einstehen für die der Deportation ausgelieferten Juden ist nicht glücklich formuliert. Der traditionelle Antisemitismus vom „Gottesgericht über die Stadt Jerusalem“ im Jahre 70 n. Chr. wird unnötigerweise aus der Schublade geholt. Weit besser wäre ein Hinweis auf Joh 4,22 gewesen: „Denn das Heil kommt aus den Juden“. Immerhin aber wird die damalige Tempelzerstörung auch als Mahnung an die Christen in Dienst genommen. Auch die Christen müßten einsehen, „was ihnen zum Frieden dient“. Sie müßten sich mit den Bischöfen gegen die Judenvertreibungen wehren. Dieser ideologische Fehler kann daher übersehen werden.

Den katholischen Bischöfen und den evangelischen Verantwortlichen in Holland ging es nicht in erster Linie um die Judenchristen, sondern um alle Juden, die deportiert worden waren oder deren Deportation bevorstand. Dies wird aus dem gemeinsamen „Telegramm“ deutlich. Außerdem ging es ihnen um eine Aufrüttelung der Christen aller Konfessionen. Sie sollten derlei Verbrechen weder bejahen noch dulden. Sie dürften sich auch nicht aufgrund bestimmter Bibelstellen der Verantwortung für das jüdische Volk entziehen. Im 19. Kapitel des Lukasevangeliums seien auch die Christen zur Umkehr aufgerufen. Ohne christliche Umkehr gebe es keine jüdische Rettung. Beachtenswert sind auch die von den Bischöfen ausgesprochenen und von den Gläubigen nachzuvollziehenden Fürbitten für das bedrohte jüdische Volk. Gott möge es beschirmen und „bewahren vor Verbitterung und Mutlosigkeit“. Er möge es „treu erhalten im Glauben und auch ihre zurückgebliebenen Angehörigen stärken“. Die beigefügte Bitte, daß das Volk Israel zur wahren Erlösung in Jesus Christus gelangen möge, war im Zusammenhang der Argumentation kaum schädigend. Der Hinweis auf die — heute würden wir sagen — verengte christliche Hoffnung hat damals eventuell verschiedene Christen bestärken können, sich für das bedrängte jüdische Volk einzusetzen, da ja Paulus in Röm 9-11 damit auch Hoffnungen für die Christen verbindet. Vielleicht aber wären dem in Holland lebenden jüdischen Volk noch größere Rettungschancen erwachsen, wenn nicht nur das Telegramm, sondern das ganze Dokument von allen christlichen Konfessionen unterzeichnet worden wäre. Das Zusammenstehen aller christlichen Konfessionen ist für die Vermeidung und Bekämpfung aller Judenfeindschaft unumgänglich. Dazu haben sich heute die getrennten christlichen Konfessionen weitgehend durchgerungen.

Das gemeinsame sowie die getrennten Rundschreiben der christlichen Kirchen gegen die Vertreibung der Juden in die Todeslager sind ein schmales und ziemlich einsames Lichtzeichen mitten im Versagen der christlichen Gemeinschaften und der einzelnen Christen. Leider bewirkten sie gegenteilig, daß holländische Christinnen und Christen jüdischer Herkunft verhaftet, gequält, deportiert und ermordet wurden. Diese Brutalität schreckte Kirchenführer vor allem in Deutschland und im Vatikan ab, weitere explizite Erklärungen gegen die Ermordung der Juden durch die Nazis abzugeben. In heutiger Sicht war dies kleingläubig.

  1. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe findet sich u. a. in: Anne Mohr/Elisabeth Prégardier (Hg.), Passion im August (2.-9. August 1942), Edith Stein und Gefährtinnen: Weg in Tod und Auferstehung. Zeugen der Zeitgeschichte, Bd. 5. Plöger Verlag, 2/1995, 38-45 (vgl. FrRu 3[1996]293-294 und FrRu 6[1999]3-20). Die Verlesungs- und Gebetstexte finden sich samt zeit- und religionsgeschichtlichen Kommentaren (teils in Kurzfassung) in: Jacob Presser, Ondergang. De verfolging en verdelging van het nederlandse jodendom 1940-1945, ‘s-Gravenhage 1965; Lou de Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog. Bd. 6, juli 1942 – mei 1943, 1. Teil, Den Haag 1975; H. C. Touw, Het herzet der Hervormde Kerk, ‘s-Gravenhage 1946; Johan M. Snoek, The Grey Book. A Collection of Protests against Anti-Semitism and the Persecution of Jews. Issued by Non-Roman Catholic Churches and Church Leaders during Hitler‘s Rule, Assen 1969.
  2. Alle Angaben und Dokumentationen über den Widerstand der holländisch-evangelischen Kirchen verdanke ich dem hochgeschätzten und historisch-theologisch versierten Nico Sonnevelt, Pfarrer in Rüschlikon, Schweiz. Er wird in einer der nächsten Nummern des FrRu über das historische und theologische Verhältnis zwischen Juden und Christen in Holland referieren.
  3. Das im Folgenden zitierte Telegramm der kath. Bischöfe vom 11. Juli 1942 an die Generalkommissare Hans A. Rauter und Schmidt und an den Wehrmachtsbefehlshaber Friedrich Christiansen findet sich in Mohr/Prégardier, (Anm. 1) 38-40.
  4. Konsequenz des Telegramms der Kirchen war die Vorladung von kirchlichen Vertretern am 14. Juli bei Generalkommissar Schmidt. Die Vorgeladenen wurden (überraschenderweise) informiert, daß die vor 1941 getauften Juden nicht deportiert würden.
  5. Vgl. J. Presser, Ondergang, (Anm. 1) 281.
  6. Inzwischen ist eine vorzügliche Biographie des Berliner Kardinals erschienen: Wolfgang Knauft, Konrad von Preysing, Anwalt des Rechts. Der erste Berliner Kardinal und seine Zeit, Morus Verlag, Berlin 1998.

Jahrgang 7/2000 Seite 81



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