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Johann Michael Schmidt

Die Passion Jesu als historische Frage. Wer trägt die Schuld am Tod Jesu?

„Sonderbar! Eben das Volk, das der Welt einen Gott gegeben, und dessen Leben nur Gottesandacht atmete, ward als Deicide verschrien!“ So räsoniert Heine am Ende seines Lebens. Das Neue Testament bietet z. T. widersprüchliche Aussagen über die Hinrichtung Jesu und die dafür Verantwortlichen. Den Vorwurf des Gottesmordes enthält es nicht. Dieser Vorwurf läßt sich erstmals nachweisen bei Bischof Melito von Sardes in Lydien in einer erst 1940 wiedergefundenen Passa-Homilie (entstanden zwischen 160 und 170).1

Die Aussagen der Evangelien

Alle vier Evangelien führen die Hinrichtung Jesu auf ein Zusammenwirken von jüdischer und römischer Seite zurück. In der Verteilung der Gewichte gehen sie jedoch deutlich auseinander. Die römische Seite wird immer mehr entlastet und die jüdische Seite belastet. Das zeigt sich am deutlichsten an der Rolle des Pilatus, die immer sympathischere Züge annimmt. Bei Markus erscheint Pilatus als politischer Opportunist. Matthäus und Lukas zeichnen ihn als einen Schwächling, der — von der Unschuld Jesu überzeugt — nur dem Drängen „des ganzen Volkes“ (Mt 27,25) nachgegeben habe. Lukas berichtet von drei Versuchen des Pilatus, Jesus freizulassen. Bei Johannes wird Pilatus schließlich zur tragischen Figur, die erst unter massivem politischen Druck seitens der Hohenpriester und ihrer Bediensteten weich wurde.

Die Schilderungen der Beteiligung des Volkes spiegeln die wachsende judenfeindliche Tendenz nicht durchgängig wider. Bei Markus muß das Volk erst durch die Hohenpriester aufgewiegelt werden, um die Freigabe des Barabbas zu erbitten (Mk 15,11); bei Matthäus nimmt „das ganze Volk“ die Schuld für die Hinrichtung Jesu auf sich (Mt 27,25). Lukas läßt zwar das Völk vor Pilatus zusammen mit den Hohenpriestern agieren (Lk 23,4.13), erzählt aber auch von anderen, die sich betroffen zeigen (Lk 23,37-41.48). Bei Johannes kommt das Volk in den Auseinandersetzungen mit Pilatus nicht vor. „Die Juden“ lassen sich eindeutig als die Hohenpriester und ihre Bediensteten identifizieren. Läßt sich hier von einer Entlastung des jüdischen Volkes sprechen, so werden die Hohenpriester um so krasser als Zerrbilder jüdischer Repräsentanten gezeichnet, die nicht einmal vor einer Perversion ihres Gottesbekenntnisses zurückgeschreckt seien (Joh 19, 15).

Mit der Verschärfung der judenfeindlichen Töne geht eine stärkere Akzentuierung sowohl der politischen als auch der theologischen Anklagepunkte vor Pilatus einher. Bei Markus beschränkt sich das Verhör vor Pilatus auf die positiv beantwortete Frage, ob Jesus der König der Juden sei, und auf nicht näher erklärte Anklagen von seiten der beteiligten Juden. Matthäus fügt an den entsprechenden Stellen den Messiastitel ein (Mk 27,17.22). Lukas gibt den Anklagen der beteiligten Juden deutlich politische Spitzen (Lk 23,2.5). Johannes schließlich spitzt die Anklage auf den Anspruch Jesu zu, „Gottes Sohn zu sein“ und stellt diesen Anspruch in unversöhnlichen Gegensatz zum jüdischen Gesetz sowie zur Loyalität dem römischen Kaiser gegenüber (Joh 19,7.12). Der von falschen Zeugen vorgebrachte Vorwurf von einem Angriff Jesu auf den Tempel findet sich nur in Mk 14,58 und Mt 26,61. Die theologischen Reflexionen konzentrieren sich auf die Christologie. Soteriologische Aussagen finden sich allenfalls in den Abendmahlsworten der Synoptiker und andeutungsweise in Joh 11,50-52.

Historische Fragestellung

Zu den direkten außerneutestamentlichen Quellen gehören nur zwei kurze Bemerkungen. In den Annalen (ca.115/6 n. Chr.) des römischen Geschichtsschreibers Tacitus lesen wir: „Dieser Name (Christiani) stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“ (Annales 15,44). In einem auf seine Echtheit hin umstrittenen Abschnitt der Antiquitates (um 93 n. Chr.) des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus Flavius heißt es: „Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu“ (Antiquitates 18,63).

Zu den indirekten Quellen gehören vor allem Berichte des Josephus Flavius von innerjüdischen Konflikten, die zugleich die römische Oberherrschaft berührt haben. Aus ihnen lassen sich Analogieschlüsse ziehen, wobei es entscheidend auf die Vergleichspunkte ankommt. Als indirekte Quellen werden vor allem von jüdischen Forschern entsprechende Angaben aus dem Talmud über Rechtsbefugnisse und Organisationsfragen des Synedriums gewonnen. Da die betreffenden Überlieferungen aus der Zeit der Neubildung des rabbinischen Judentums nach der Zerstörung des Tempels und Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. stammen, sind Rückschlüsse auf die Umstände, unter denen Jesus verurteilt und hingerichtet worden ist, nur mit großer Vorsicht möglich. Hauptquellen bleiben also die Passionsgeschichten der vier Evangelien. Da sie keinesfalls modernen historiographischen Anforderungen entsprechen, kommt es entscheidend auf ihre methodische Analyse und Auswertung an.

Die Form der ältesten Passionsüberlieferung begünstigt die Annahme einer zusammenhängenden vormarkinischen Passionserzählung und die Einschätzung des Markus als einen „konservativen Redaktor“. Als wichtigstes Indiz zur Erschließung der vormarkinischen Überlieferung dient das Ausmaß an Vertrautheit vor allem mit Personen, deren Namen nicht genannt zu werden brauchten, weil sie den ursprünglichen Rezipienten als bekannt vorausgesetzt werden konnten.2 Die Anspielungen auf biblische Texte legen die Vermutung sprachlicher und gedanklicher Ausgestaltung durch die Evangelisten oder älterer Überlieferer nahe. Die Zerstörung des Tempels und Jerusalems wird im nachfolgenden Dreiecksverhältnis zwischen Juden, Christen und der römischen Oberherrschaft noch mehr Bedeutung erlangt haben. Hier dürfte die Tendenz zur Entlastung des Pilatus liegen. Maßgeblich auf die Ausgestaltung der Verhöre sowohl vor dem Synedrium als auch vor Pilatus hat offenbar die nachösterliche Entwicklung der Christologie gewirkt. In ihr geht es um das besondere Verhältnis Jesu zu seinem Vater, um sein Selbstbekenntnis, Christus, Sohn Gottes zu sein. Diese Entwicklungen haben judenfeindliche Motive verstärkt.

Die mutmaßlich ältesten Überlieferungen lassen folgendes Bild entstehen: Für die Verurteilung und Hinrichtung Jesu ist Pilatus verantwortlich. Gründe dafür sind offenbar politischer Art. Anhalt dafür bietet die Rede von Jesus als „König der Juden“ in der Verhandlung mit Pilatus. Auf jüdischer Seite waren Hohepriester und Angehörige des Jerusalemer Stadtadels (Älteste) aktiv beteiligt gewesen. Nach Luk 23,2 f. und Joh 11,47 ff. haben sie — zumal zum bevorstehenden Pesachfest — die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch das Auftreten Jesu in Jerusalem bedroht gesehen. Die Angriffe Jesu gegen den Tempel gehören hier zum alten Überlieferungsbestand, der später vom Messiasanspruch überlagert oder verdrängt worden ist. Die Initiative zur Verhaftung Jesu dürfte von der betreffenden jüdischen Seite ausgegangen sein. Dazu fügt sich auch die johanneische Version, daß an den Auseinandersetzungen mit Pilatus nur Repräsentanten der jüdischen Religionsbehörde beteiligt gewesen seien. Die Rede von einer offiziellen Sitzung des Synedriums mit Verhör und Verurteilung erweckt den Eindruck einer nachträglichen Eintragung. Nach Johannes scheinen es Angehörige der hohenpriesterlichen Familien gewesen zu sein, die Jesus an Pilatus „ausgeliefert“ haben. Die Themen der Streitgespräche und Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern in Galiläa finden in den Anklagepunkten keine Erwähnung.

„Christus und Pilatus“ Lithographie von Max Beckmann, 1946

Aus dem Verhör vor Pilatus läßt sich nichts über seine persönliche Einschätzung von Jesus und seiner Schuld oder Unschuld ablesen. Als Motiv seiner offenbar raschen Entscheidung schimmert Opportunismus durch. Dafür kommt ein Zusammenwirken mit jüdischen Repräsentanten in Betracht. Im Blick auf die Verhältnisse am Tempel und in der Stadt zum Pesachfest scheinen die Interessen der römischen und jüdischen Ordnungsmacht zu konvergieren. Dieses Bild deckt sich mit den Aussagen im „Testimonium Flavianum“ bei Josephus.

Ein kontrovers diskutiertes Problem bildet die bei allen Evangelisten überlieferte Barabbas-Episode. In ihr wird der jüdischen Seite eine Mitschuld zuerkannt und Pilatus zugleich moralisch entlastet. Jesus an der Seite eines politischen Aufrührers paßt zu den politischen Motiven, aus denen die jüdischen Machthaber initiativ geworden sind und Pilatus eingegriffen hat. Eine Amnestie zum Pesachfest wird aber weder in römischen noch in jüdischen zeitgenössischen Quellen erwähnt. Shmuel Safrai sieht in talmudischen Quellen Hinweise auf eine Freilassung zum Fest. Dennoch hält Flusser es für „schwierig zu bestimmen, bis zu welchem Grad wir hier eine Traditionsbildung oder eine historische Tatsache vorliegen haben“.3

Die heutige Forschungslage

Innerhalb der Forschung herrscht insoweit Übereinstimmung, als von einem Zusammenwirken römischer und jüdischer Machthaber zu sprechen sei und politische Gründe für die rechtlich allein von Pilatus zu verantwortende Hinrichtung Jesu den Ausschlag gegeben hätten. In der Gewichtsverteilung der Verantwortung für den Tod Jesu zwischen römischer und jüdischer Seite gehen allerdings die Meinungen auseinander.

Die jüdische Forschung tendiert im Gefolge der Arbeit von P. Winter4 dazu, die Initiative und die Verantwortung Pilatus zuzurechnen. Die dafür angeführten Argumente haben G. Theißen und A. Merz übersichtlich und knapp zusammengestellt.5 Wenn für diese Position auch eigene jüdische Interessen im Spiel sein sollten, so gibt es dafür, nach den Erfahrungen mit der christlichen Tradition, verständliche Gründe. Flusser hat solche Gründe im Auge, wendet sich selbst aber ausdrücklich gegen die Neigung, „die aktive Rolle der Hohenpriester zu unterschätzen“.6

Unter dem Einfluß apologetischer Tendenzen stehen Äußerungen christlicher Theologen, die sich um die Überwindung judenfeindlicher Traditionen in der christlichen Bibelwissenschaft bemühen. Leonore Siegele-Wenschkewitz beruft sich uneingeschränkt auf P. Winter und folgert: „Mit Eindeutigkeit kann also gesagt werden: die politisch-rechtliche Verantwortlichkeit für den Tod Jesu lag bei Rom, die politischen und religiösen jüdischen Autoritäten waren Handlanger Roms.“7

Eine Gegenposition vertritt Bernd Wander. Mit Hilfe von Analogieschlüssen vor allem aus den Vorkommnissen, die sich um den Tod Herodes des Großen in Jerusalem abgespielt haben, sowie unter Hinweis auf gesteigerte Spannungen seit dem Amtsantritt des Präfekten Pilatus im Jahr 25 n. Chr. findet Wander in der Version von Joh 11,47-53 eine historisch weithin glaubhafte Darstellung.8 Seine Argumentation läuft auf ein Abwägen der Anklagepunkte hinaus, die Pilatus vorgebracht worden sind und die „römischem Rechtsdenken“ hätten einleuchten müssen. Hier stellt er die Angriffe Jesu gegen den Tempel und den Vorwurf, Jesu sei der „König der Juden“, einander gegenüber. Nur diese Anklage habe Pilatus zum Handeln bewegen können. Das Entscheidende an Wanders Darlegungen liegt darin, daß er die Mehrdeutigkeit der Vorgänge und Argumente überzeugend herausstellt. Dadurch gelingt es ihm, judenfeindliche Klischeevorstellungen fernzuhalten und Raum für nüchternes historisches Wahrnehmen und Abwägen zu schaffen.

Eher eine mittlere Position nehmen Theißen und Merz insofern ein, als sie die Gewichte zwischen römischer und jüdischer Seite gleichmäßiger verteilen als Wander. „Der Tod Jesu ist die Folge von Spannungen zwischen einem vom Lande kommenden Charismatiker und einer städtischen Elite, zwischen einer jüdischen Erneuerungsbewegung und römischer Fremdherrschaft, zwischen dem Verkündiger kosmischen Wandels, der auch den Tempel verwandeln sollte, und den Vertretern des status quo. Religiöse und politische Gründe lassen sich nicht auseinander halten.“9 Damit stellen sie den Tod Jesu in den weiteren Zusammenhang seines Wirkens. Seine Verkündigung von der bereits anbrechenden Herrschaft des Gottes Israels bietet den überzeugenden Anhaltspunkt. Sofern Jesu Auftreten in Jerusalem vor dem nahen Pesachfest unter diesem Anspruch stand und so von der jüdischen und der römischen Ordnungsmacht wahrgenommen worden ist, machte er sich beide Seiten zu Gegnern. Es ist anzunehmen, daß sie auch zusammen agiert haben.

Theißen und Merz rechnen mit einer breiten Beteiligung auf jüdischer wie auf römischer Seite, sowohl „kleiner Eliten“ als auch „einfacher Menschen“, die „in Zurufen Jesu Tod gefordert“ haben. „Die Frage nach der ,Schuld‘ am Tode Jesu ist unsachgemäß. Beantworten läßt sich die Frage nach der Verantwortung für seine Hinrichtung. Sie liegt bei den Römern, die auf Initiative der jüdischen Lokalaristokratie handelten.“10 Entscheidend ist die Machtkonstellation im Verhältnis zwischen römischer und jüdischer Seite in Jerusalem. Grundsätzlich gilt, daß die jüdischen Machthaber von der römischen Besatzungsmacht abhängig waren. Die in den ältesten Überlieferungsschichten genannten Anklagepunkte treffen genau diese Machtkonstellation. Das gilt sowohl für die tempelkritischen Äußerungen und Handlungen Jesu, als auch für die Rede von Jesus als dem „König der Juden“.

Wer trägt die „Schuld“ am Tod Jesu?

Judenfeindliche Einstellungen haben lange Zeit die kirchliche Verkündigung beherrscht und auch auf die Bibelwissenschaft eingewirkt. Das hat sich mit der Umkehr und Erneuerung in Kirche und Theologie geändert. Der wissenschaftliche Austausch zwischen christlicher und jüdischer Forschung hat den Wandel gefördert. Heutige Forschungsmeinungen bieten keinen Anhalt mehr für judenfeindliche Ausschlachtungen.

Ein wesentliches Ergebnis trifft die Rede von „Schuld“. Klingt sie moralisch, ist sie abwegig. Ist sie rechtlich gemeint, kann es sich nur um eine strikt historische Schuld handeln. Sollte sie aber religiös oder theologisch gemeint sein, verweist das Neue Testament selbst auf andere Antworten. Diese finden sich aber nicht in den Passionserzählungen der Evangelien. Für den Gesamtbefund im Neuen Testament ist das noch unverbundene Nebeneinander zwischen formelhaften Glaubensüberlieferungen und historisierenden Erzähltraditionen kennzeichnend. Glaubensüberlieferungen deuten den Tod Jesu soteriologisch und sprechen von Sünden und Schuld, identifizieren diese aber je aktuell im Blick auf die Angesprochenen unter Einschluß der Redenden oder Schreibenden. Die Erzähltraditionen identifizieren die Schuldigen im historischen Sinn, im einzelnen unterschiedlich, in der Zusammenschau aber einheitlich als „die Juden“ oder als „das ganze Volk“ (Mt 27,25). Das im Neuen Testament noch unverbundene Nebeneinander beider Redeweisen hat sich im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte als entscheidend für die sich ausbildende Judenfeindschaft erwiesen. Beispielhaft läßt sich das bei Luther in seinem „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ (1519) finden. „... das du dir tieff eyn bildest und gar nicht zweyffelst, du seyest der, der Christum alßo marteret, den deyn sund habens gewißlich than“.11 Aber er verknüpft diese Selbsterkenntnis mit der Perspektive, daß „... die Juden, wie sie nu gott gerichtet und vortrieben hatt, seynd sie doch deyner sunde diener gewest, und du bist wahrhafftig der durch seyn sunde gott seynen sun erwurget und gekreutziget hatt, wie gesagt ist“.12 Hier bietet Luther zwar ein Gegengewicht gegen leichtfertige und einseitige Angriffe gegen die Juden; gleichwohl stehen sie für ihn als „Übeltäter“ fest. Diese Verknüpfung aktualisierender, theologischer und historisierender, judenfeindlicher Verkündigung findet sich auch in Passionsliedern und in der Passionsmusik, insbesondere von J. S. Bach (vgl. FrRu 5[1998]103-111). Für die heutige Rezeption muß das genannte Nebeneinander der im Neuen Testament enthaltenen Redeweisen vom Tod Jesu neu bestimmt werden. Die historisierenden Passionserzählungen der Evangelien können nur noch kritisch kommentiert vermittelt werden. Die soteriologischen Deutungen müssen als zeitbedingte, unter damaligen biblischen Voraussetzungen zu verstehende Antworten auf damalige Fragen erklärt werden.

Auch auf die Frage nach Leid und Elend in der Welt, vor allem im Blick auf Auschwitz, müssen neue Antworten gesucht werden. Dazu mögen die Passionserzählungen herangezogen werden — unter der eben genannten Voraussetzung kritischer Wahrnehmung. Die Rede vom „König Israels“ kann hilfreich sein, wenn sie streng alttestamentlich gehört wird: Der leidende und sterbende „König Israels“ ist Repräsentant seines Volkes Israel. Wenn er auch als Repräsentant des Gottes Israels verstanden wird, gewinnt die Rede von Gott biblische Züge, die das Leiden dieses Gottes einschließt. So kann eine heute mögliche Zusammenschau der verschiedenen neutestamentlichen Aussagen vom Tod Jesu im gesamtbiblischen Horizont neue Perspektiven eröffnen. Sie werden sich daran bemessen, wie weit sie judenfeindlichen Vorstellungen den Boden entziehen und wie weit sie heutigen Leidens- und Todeserfahrungen von Christen und Juden Raum geben.

  1. Vgl. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jb.), Verlag Peter Lang, Frankfurt 1982, 203.201-204.
  2. Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, 392.
  3. David Flusser, Die letzten Tage Jesu in Jerusalem, Calwer Verlag, Stuttgart 1982, 103.
  4. Vgl. Paul Winter, On The Trial of Jesus, SJ 1, de Gruyter Verlag, Berlin 1961.
  5. Theißen/Merz (Anm. 2) 399-403.
  6. Flusser (Anm. 3) 102 f.
  7. Leonore Siegele-Wenschkewitz in: Frank Crüsemann/U. Theissmann (Hg.), Ich glaube an den Gott Israels, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1999, 84.82-85.
  8. Bernd Wander, Trennungsprozesse zwischen frühem Christentum und Judentum im 1. Jh. n. Chr., Francke Verlag, Tübingen/Basel 1994, 71.60-97.
  9. Theißen/Merz (Anm. 2) 408.
  10. Theißen/Merz (Anm. 2) 409.
  11. WA 2,137.22 f; 136-142.
  12. WA 2,138.15-32.

Dr. Johann Michael Schmidt ist Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Köln.


Jahrgang 7/2000 Seite 99



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