Riegner, Gerhart M.
Soixante années au service du peuple juif et des droits de l‘homme. Les Editions du Cerf, Paris 1998. 683 Seiten.
Derzeit wird im Falle vieler Institutionen und Persönlichkeiten, die während des Nazi-Terror-Regimes in Europa und in den USA tätig waren, ermittelt, ob ihnen Passivität und Verschuldung im Zusammenhang mit der Vernichtung der sechs Millionen Juden und Jüdinnen, Erwachsener und Kinder, anlastet. Auf dem Prüfstand stehen Deutschland, Österreich und die Schweiz, die Balkanstaaten, die USA und der Vatikan sowie das Internationale Rote Kreuz und der Jüdische Weltkongreß.
Gerhart M. Riegner war 1936-1940 Direktor des Genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses. Ab 1948 war er dessen Koordinator und 1965-1983 Generalsekretär. Er leitet das Genfer Büro bis heute. Mit diesem Buch und seinem aufmunternden Titel legt Riegner keine bloße Autobiographie vor, sondern einen ernsten Rechenschaftsbericht über seine Tätigkeiten als Direktor des Genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses während und nach den schaurigen Jahren der mörderischen Hitlerdiktatur. Am bedeutendsten in diesem Bericht ist das „Riegner-Telegramm“ (65) über die Pläne der Nazis zur totalen Vernichtung des jüdischen Volkes.
„Ich habe einen alarmierenden Bericht erhalten, wonach im Führerhauptquartier ein Plan diskutiert wurde, daß alle Juden in den von Deutschland besetzten oder kontrollierten Gebieten, etwa dreieinhalb bis vier Millionen, nach ihrer Deportation und Konzentration im Osten, mit einem Schlag vernichtet werden sollen. So soll ein für allemal die jüdische Frage in Europa gelöst werden. Nach dem Bericht ist die Aktion für den Herbst geplant. Die Mittel der Ausführung werden noch diskutiert, eingeschlossen die Anwendung von Blausäure. Wir übermitteln diese Information mit all der notwendigen Zurückhaltung, denn über ihren genauen Inhalt konnten wir uns nicht vergewissern. Der Informant ist als jemand bekannt, der enge Beziehungen mit den höchsten deutschen Stellen unterhält und seine Informationen sind allgemein glaubwürdig.“
Am 8. August 1942 übergab Riegner dieses Telegramm dem amerikanischen Vizekonsul M. Howard Elting, damit dieser es Präsident Franklin D. Roosevelt und Rabbiner Stephen S. Wise, dem damaligen Inspirator des Jüdischen Weltkongresses, weiterleite. Unmittelbare Veranlassung waren verläßliche Nachrichten eines „grand industriel allemand“ (55 f.) über bereits eingeleitete Vernichtungspläne, die Benjamin Sagalowitz an Riegner vermittelt hatte mit dem Hinweis, Amerika, England u. a. Informationen über „Zyklon B“ und andere Vernichtungsvorkehrungen etc. zu informieren.
Das Telegramm hatte große Auswirkungen, weil Riegner selbst nun alle möglichen Büros, Institutionen und Autoritäten aufsuchte, um Interventionen zu erreichen. Auch das US-Staatssekretariat leitete im Gefolge dieses Telegramms Umfragen ein. Der Vatikan reagierte mit dem Satz: „Wir haben Kenntnisse über die schlechte Behandlung der Juden, aber keine Bestätigung einer globalen Vernichtung“ (68). London und die Schweiz reagierten ähnlich. Immerhin gab es am 17. Dezember 1942 eine Erklärung mehrerer Regierungen, in der warnend auf den totalen, gegen das ganze jüdische Volk gerichteten Vernichtungsplan der deutschen Machthaber hingewiesen wurde (82-84). Aber es mangelte in der Schweiz, in England, in den USA, in Südamerika und anderswo an der Bereitschaft, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen (84-86). Riegner weist auch auf Streitereien unter amerikanischen Juden während des Zweiten Weltkrieges hin. Die Verantwortlichen hätten nach Riegners Meinung schon vor Kriegsbeginn organisatorische Einheiten bilden müssen; dann hätten sie während der Kriegszeit eher gemeinsam agieren können (108 f.). Die durchgehend interessantesten Passagen in Riegners Buch sind die Berichte über auftauchende Informanten über und Warner vor der geplanten Endlösung. Genf war die Sammelstelle für Berichterstatter, Riegner ein verläßlicher Übermittler, besonders an Regierungen und an die Direktion des Jüdischen Weltkongresses in den USA.
Im dritten Hauptteil des Buches informiert Riegner über seine Bemühungen um die Menschenrechte. Es waren wichtige und schwierige Bemühungen, die dann teilweise auch dank seiner Initiativen aufgegriffen worden sind. Erstaunlich ist der vierte Teil: „Unsere Beziehungen mit den christlichen Kirchen“. Mehr als 200 Seiten sind diesem Teil der Arbeit des Jüdischen Weltkongresses gewidmet. Riegner wollte mithelfen, daß die Kirchen, speziell die katholische, aus ihrer antisemitischen Vergangenheit herauskommen, Versäumnisse eingestehen und neue Beziehungen mit dem jüdischen Volk knüpfen. In den fünfziger und sechziger Jahren war Riegner fast überall dort als Beobachter und Gesprächspartner dabei, wo sich Erneuerungen auf christlicher Seite anbahnten: beim II. Vatikanischen Konzil und bei anderen wichtigen Kirchenversammlungen. Ab 1942 initiierte Riegner Gespräche mit dem Vatikan über dessen Nuntiaturen (164 f.) und regte ferner engere Kontaktaufnahme zwischen der USA-Regierung und dem Vatikan an, besonders über Myron Taylor, dem persönlichen Gesandten von Präsident Roosevelt (vgl. FrRu 7[2000]2-10). Der Vatikan wurde zur Sammlung von Informationen über jüdische Flüchtlinge, Kinder und Ermordete aufgefordert. Nach Riegners Meinung war der Vatikan „bien informé“ über die Ausrottung der Juden, vermutlich besser als der Jüdische Weltkongreß (169). Über die Ansprache Pius XII. an Weihnachten 1942 (vgl. FrRu 5[1998]166) gibt Riegner ein (unerwartet) positives Urteil ab: „Ich muß gestehen, daß mir damals die päpstliche Ansprache sehr bedeutsam zu sein schien“ (170). „Es war das erste Mal, daß der Pontifex persönlich einen Hinweis auf die Ermordung der Juden machte ... Aber er sagte nicht, daß es Hitler um die Ausrottung eines ganzen Volkes ging.“ Nach Riegners Eindruck haben die hohen katholischen Würdenträger erst sehr spät das ganze Ausmaß des Dramas der Vernichtung der Juden erkannt. Und sie haben die jüdische Tragödie nicht als vorrangiges Problem betrachtet (169-177). Mehr als über Pius XII. scheint Riegner über Msgr. Giovanni B. Montini, den späteren Papst Paul VI., enttäuscht gewesen zu sein. Er hatte im November 1945 ein Treffen mit ihm, um mit Hilfe der römischen Kurie verschollene jüdische Kinder zu finden. Montini habe sich mißtrauisch gezeigt. Es könne unmöglich 1,5 Millionen verschollene jüdische Kinder geben. „Weder Montini noch die hohe Bürokratie der katholischen Kirche haben begriffen, was passiert ist. Auch nach dem Krieg existierte Ignoranz um die Tragödie“ (180). Die protestantischen Kirchen haben sich nach Riegners Ermessen besser bewährt als die Katholiken. Er schätzte besonders den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem A. Visser‘t Hooft, der in Genf lebte und Interventionen im Namen der Verfolgten verlangte (182 f.). –
Gerhart M. Riegner hat hohe organisatorische und geistige Fähigkeiten. Er hat diese während und nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dienst des bedrohten jüdischen Volkes gestellt. Dabei hat er sich auch als Freund und Mahner des Christentums erwiesen. Die vorliegende Rechenschaft über seine Bemühungen und Erfolge sind keine bloße Selbstverteidigung gegen latente Vorwürfe aus den eigenen Reihen. Sie erarbeitet vielmehr wichtige Spuren, damit auch christlicher- und politischerseits neue Aspekte für Rechenschaft und Besinnung daraus gewonnen werden können. Das Buch ist aber nicht nur ein Rechenschaftsbericht und nicht bloß Selbstverteidigung eines Attackierten. Es ist eine Dokumentation der politischen und kirchlichen Verwicklungen während der Zeit der größten Katastrophe der Weltgeschichte und des schwierigen Agierens dagegen. Das Buch gehört in die Regale und in die Hände heutiger Historiker, Theologen und Politiker.
Clemens Thoma
Jahrgang 7/2000 Seite 124