New Haven and London, Yale University Press 1999. 149 Seiten.
„Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, sagte Ignatz Bubis von sich. Das klang sowohl überzeugt als überzeugend. Um so mehr überraschte die Nachricht, er wolle in Israel begraben werden. War es eine späte Absage an eine deutsch-jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland? Bubis hat mit seinem Tod diese Kernfrage offen gelassen. Paul Mendes-Flohr, Leiter des Franz-Rosenzweig-Zentrums an der Hebräischen Universität in Jerusalem sucht auf eine ähnliche Frage eine kulturhistorische Antwort. Begeistert folgten die Juden in Deutschland dem Leitgedanken der Aufklärung und propagierten die Ideale einer liberalen Bildung. Diese Bildung, ein ethisch geprägter Humanismus, sollte ihnen die Integration in eine neue gesellschaftliche Ordnung ermöglichen. Alsbald zeigte es sich jedoch, daß das Konzept der Bildung eine nationale Färbung bekam, die eng mit der Herausbildung einer kollektiven, nationalen deutschen Identität einherging.
Die Literatur- und Kulturhistorikerin Aleida Assmann behauptet, die Juden seien die letzten Wächter der ursprünglichen deutschen Idee der Bildung gewesen. Mendes-Flohr sieht es etwas anders: Als die Juden in das Bildungsbürgertum eintraten, waren nicht nur ihre Erwartungen an die deutsche Kultur hoch, sie nahmen für sich auch das Recht in Anspruch, ihre jüdische Identität aufrechtzuerhalten, und nicht unbedingt nur im religiösen Sinne. Die Tragik des deutschen Judentums liegt daher in dem „Erwartungshorizont“. Die Juden hofften auf eine demokratische, „neutrale Gesellschaft“, in der religiöse und ethnische Vorstellungen irrelevant sein würden, doch die liberalen Deutschen tauschten das kosmopolitische Konzept der Bildung zugunsten eines national-orientierten Paradigmas ein. Sie machten sich das Modell der Volksnation zu eigen, kultivierten ihr kollektives Gedächtnis, während die Juden auf die Herausbildung einer ahistorischen, bildungsbezogenen Identität hofften.
In drei Kapiteln, die auf Vorlesungen an der Yale Universität zurückgehen, verfolgt Mendes-Flohr diese kulturhistorische Entwicklung. Im ersten Beitrag widmet er sich dem „Kult der Kultur“ unter den Juden in Deutschland. Er unterstreicht die Affinitäten zwischen der deutschen Idee der Bildung und der jüdischen Tradition — beide zielten nicht auf einen praktischen Zweck, sondern hofften, durch stetiges Lernen der Wahrheit näher zu kommen. Die Werke der deutschen Aufklärung wurden für viele Juden zu unantastbaren Idealen, Lessings Nathan zu einer geistigen Magna Charta. Die „Nibelungentreue“, mit der die Juden an den Idealen der Aufklärung festhielten, zeigt sich u. a. an der Tatsache, daß der Jüdische Kulturbund 1933 sein Theaterprogramm mit Nathan eröffnete. „Als die dunklen Wolken des Dritten Reiches aufzogen“, so Mendes-Flohr, „las Rabbiner Leo Baeck die Propheten, aber auch Kant, Goethe und Schiller.“
Über den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur und über ihren überproportionalen Anteil an der Literatur schreibt Mendes-Flohr in dem Kapitel „Deutsch-jüdischer Parnaß“, nach dem gleichnamigen Artikel (1912) von Moritz Goldstein. Nüchtern und eindeutig ist Goldsteins Urteil: „Während sich die Juden als Deutsche fühlen, vermissen die anderen bei ihnen das germanische Gemüt“, wünschen sich, die Juden würden weniger leisten und weniger produktiv sein. Um so bemerkenswerter war die Gründung der Zeitschrift „Der Jude“ nur vier Jahre später. Damit wollte Buber dem jüdischen Bewußtsein mitten im Ersten Weltkrieg eine Stimme leihen. Das dritte Kapitel kreist um Franz Rosenzweigs bekannte Metapher vom Zweistromland und sucht die Verbindung zwischen Deutschtum und Judentum im Spiegel der kulturhistorischen Entwicklung zu beleuchten. Bei Moses Mendelssohn, dem „ersten deutschen Juden“, deutet dieses und auf eine eher schwache Verknüpfung zweier separater Realitäten. Für Hermann Cohen dagegen markierte es eine harmonisierende Konjunktion, eine Partnerschaft. Bei Franz Rosenzweig signalisiert das und die schöpferische Spannung zwischen Deutschtum und Judentum, deutet auf einen erhofften Dialog und gleichzeitig auf die gespaltene Identität der Juden hin.
Trotz der Vielzahl akademischer Studien zu diesem Thema, die Mendes-Flohr in seiner Bibliographie größtenteils erwähnt, legt man dieses Buch dennoch mit Gewinn aus der Hand. Die Lektüre stimmt ebenfalls nachdenklich. Dem Leser wird deutlich, wie groß die Zäsur des Holocausts in der deutsch-jüdischen Geschichte war.
Anat Feinberg
Jahrgang 7/2000 Seite 136