Schon vor dem 12. März 2000, dem Tag, an dem Papst Johannes Paul II. im Rahmen einer Eucharistiefeier im Petersdom ein deutliches Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche ablegte, war viel Unruhe und Unsicherheit in die Welt hineingestreut worden. Im Vatikan und in der theologischen Welt wurden empfindliche Fragen gestellt: Wird da nicht die päpstliche Unfehlbarkeit untergraben? Gibt der Papst nicht indirekt zu, daß Pius XII. in Glaubens- und Sittenfragen versagt hat, als er über die Schoa schwieg? Will sich der Vatikan bezüglich der Zeit des Zweiten Weltkrieges und anderer vergangener schwerer Fehler und Versäumnisse mit Hilfe der Versöhnungsliturgie entlasten?
Die neuen Unsicherheiten datieren hauptsächlich seit dem 16. März 1998, als die Vatikanische Kommission für religiöse Beziehungen mit den Juden das Dokument „Wir erinnern uns: Nachdenken über die Schoa“ veröffentlichte.1 Darin ist die Aussage deponiert, nicht „die Kirche als solche“ habe gesündigt, denn sie sei in ihrem Wesen heilig. Die schwere Sünde des Antisemitismus sei aber leider auch von christlichen Menschen außerhalb der Heiligkeit der Kirche begangen worden. In der Öffentlichkeit wurde dies weithin als theologische Ausrede gedeutet. Aus Angst vor Fehlinterpretationen hat Kardinal Joseph Ratzinger rechtzeitig vor dem 12. März die von einer internationalen theologischen Kommission erarbeiteten Probleme im Zusammenhang mit Schuldbewußtsein und Verzeihung zur Kenntnis genommen und veröffentlichen lassen.2 Diese theologische Studie wurde von der öffentlichen Presse aller Schattierungen vielfältig gedeutet und auch mit Fragezeichen versehen. Vor allem wurde sie als Deutemuster für den Entschuldigungsritus des Papstes in Dienst genommen. Die Kirche ist nicht nur heilig, sondern auch sündig und deshalb zu Bekenntnis und Reue verpflichtet. Im folgenden wird erst die stellvertretende päpstliche Vergebungsbitte für die kirchlich-christlichen Sünden gegen das jüdische Volk wiedergegeben und die sechs weiteren Bußbekenntnisse kurz charakterisiert.3 Dann erst können Deutungen und Folgerungen für die Beziehungen zum jüdischen Volk folgen.
Das jeweilige Schuldbekenntnis wurde von einem Kardinal oder Erzbischof ausgesprochen. Papst Johannes Paul II. fügte dem eine Bitte um Erbarmen und Vergebung hinzu. Bekenntnis und Bitte wurden mit dem liturgischen Ruf Kyrie eleison, mit dem Entzünden einer Kerze und mit der bestätigenden Volksantwort Amen abgeschlossen. Es handelte sich dabei formal um eine liturgische Bußfeier im Sinne und in der Nachahmung des Verzeihungsritus des jüdischen Versöhnungstages (Yom Kippur).
1. Vergebungsbitte für Sünden gegen Gott und das jüdische Volk
Die vom Papst geleitete Bitte um Vergebung für die Sünden von Söhnen und Töchtern der Kirche gegen das jüdische Volk bildete als vierte Bitte die Mitte und damit auch den Höhepunkt der sieben Verzeihungsbitten. Der Präsident der päpstlichen Kommission für die Einheit der Christen und der Kommission für die Beziehungen mit dem jüdischen Volk, Kardinal Edward Idris Cassidy, leitete die Vergebungsbitte an Gott ein und der Papst sprach sie aus:
„Laß die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel auferlegt wurden. Laß sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Verheißung begangen haben, und so ihr Herz reinigen.“
Nach einem Moment der Stille sprach Johannes Paul II. das folgende Gebet:
„Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, damit dein Name zu den Völkern getragen werde.
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Verlaufe der Ge-schichte deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, daß echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn.“
2. Die übrigen Vergebungsbitten
Die erste Vergebungsbitte ist ein allgemeines Schuld- und Reuebekenntnis. Die Glieder der Kirche müssen ehrlich und demütig ihr „Gedächtnis reinigen“ und sich „auf den Weg echter Umkehr (teschuva) begeben“. Das anschließende Gebet des Papstes ist von besonderer Tiefgründigkeit:
„Herr unser Gott, du heiligst deine Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit immerfort im Blut deines Sohnes ...
Du bleibst treu, auch wenn wir untreu werden. Vergib uns unsere Schuld ...“
Der Papst appelliert hier an Gott, dessen barmherzige Bundestreue zu den sündigen Menschen vor allem durch die Verzeihungskraft der Erlösungstat Christi bis heute zum Ausdruck kommt. Die größte Hoffnung der Menschen auf Verzeihung beruht darauf, daß der Verzeihungswille Gottes stärker ist als alle Sünden der Menschen zusammen. Laut babylonischem Talmud (bBer 59a) soll auch nach jüdischem Verständnis beim Erscheinen des Regenbogens, diesem Symbol der Versöhnung, folgende Berakha gesprochen werden:
„Gelobt sei er, der des Bundes gedenkt, der zuverlässig ist in Seinem Bund und beständig in Seinem Wort.“
Interne und externe kirchliche Unverläßlichkeiten können einzig vom verläßlichen göttlichen Bundes- und Gnadenpartner aufgewogen und verziehen werden. In der zweiten Vergebungsbitte werden kirchliche Intoleranz, Unwahrhaftigkeit und Unfolgsamkeit dem Evangelium gegenüber bekannt und bereut. Diese Schuld wird in der dritten Vergebungsbitte nochmals aufgegriffen und verstärkt. Die Kirche hat „die Einheit des Leibes Christi verwundet und die geschwisterliche Liebe verletzt“ und so den Weg für Versöhnung und Gemeinschaft aller Christen versperrt. Dieses Schuldbekenntnis wird vor allem gegenüber den Mitgliedern des orthodoxen und des reformatorischen Christentums abgelegt.
Die fünfte Vergebungsbitte (nach jener gegenüber dem jüdischen Volk) betrifft die Verfehlungen gegen die Liebe, den Frieden und die Rechte der Völker sowie gegen die Achtung der Kulturen und Religionen. Katholische Christen haben „oft das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben“. Die sechste Verzeihungsbitte betrifft Sünden der Kirche gegen die Würde der Frau, gegen Ausgrenzungen und Diskriminierungen „aufgrund von unterschiedlicher Rasse und Hautfarbe“. In der siebten Verzeihungsbitte bekennt der Papst kirchlich-christliche Sünden gegen Minderjährige, Arme und Ausgegrenzte. Besonders erwähnt werden noch die Sünde der Abtreibung und Sünden, die im Zusammenhang mit Experimenten mit kranken und hilflosen Menschen verübt wurden. Die Kirche hat auch da zuwenig Einspruch erhoben. Am Schluß faßt der Papst — stellvertretend für die ganze Kirche — folgende, die Vergebungsbitten zusammenfassenden Vorsätze:
„Nie wieder Widersprüche gegen die Liebe und den Dienst an der Wahrheit, nie wieder Gesten gegen die Gemeinschaft der Kirche,
nie wieder Verletzungen gegen irgendein Volk,
nie wieder Rückgriff auf die Logik der Gewalt,
nie wieder Diskriminierung, Ausschluß, Unterdrückung, Mißachtung der Armen und Letzten.“
3. Reaktionen und Überlegungen
Das Eindrücklichste an dieser Bußfeier unter Leitung des Papstes ist zweifellos die Tatsache, daß darin keine kirchlichen Selbstverteidigungen und Rechtfertigungen vorkommen. Die Kirche bekennt sich rückhaltlos und reuig als eine Gemeinschaft, die sich gegen die Mitmenschen, gegen Völker und Religionen versündigt hat und noch versündigt. Weder die Inquisition noch Pius XII. werden auch nur andeutungsweise verteidigt. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Sündern, die dauernd der Verzeihung von Seiten Gottes und der Mitmenschen bedarf. Wenn sie Gott um Verzeihung bittet, darf sie aber keine Beschuldigung (gar mit Namensnennung) aussprechen. Nach dem Schuldbekenntnis dem jüdischen Volk gegenüber sagte der Papst im Namen der katholischen Kirche:
„Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, daß echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“
Mit dieser Verzeihungsbitte wird die Anerkennung des jüdischen Volkes als Volk des Bundes verknüpft.
Als Christinnen und Christen nehmen wir mit großer Dankbarkeit jüdische Reaktionen auf die kirchliche Verzeihungsbitte zur Kenntnis. Bereits zwei Tage nach der kirchlichen Buß- und Verzeihungsliturgie meldete sich die Zentralkonferenz der Amerikanischen Rabbiner (Reform-Judentum) und der Rabbiner-Versammlung (konservatives Judentum) zu Wort. Diese etwa 3000 Repräsentanten großer Teile des Judentums wollen die wachsenden Verbindungen zwischen jüdischen und katholischen Gemeinschaften anerkennen und fördern. Ihr Text lautet:
Die Zentralkonferenz der Amerikanischen Rabbiner und die Rabbiner-Versammlung begrüßen und anerkennen die wachsenden Verbindungen zwischen jüdischen und katholischen Gemeinden. Wir loben die mutigen Anstrengungen von Papst Johannes Paul II., die darauf gerichtet sind, den geschichtlichen Bruch der Verbindung, der unsere Gemeinden getrennt hat, zu heilen.
Der Papst hat die unwiderrufene Gültigkeit von Gottes Bund mit dem jüdischen Volk unterstrichen. Er hat den Antisemitismus als „Sünde gegen Gott“ verurteilt. Er hat diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen, in denen er die Rechte des jüdischen Staates innerhalb gesicherter Grenzen anerkannt hat. Er hat die Christenheit aufgerufen, ein Reuebekenntnis (,teschuva‘) abzulegen für die Verbrechen des Holocaust. Er hat sich entschuldigt für die Exzesse der Kreuzzüge und der Inquisition. Er hat sich gegen eine christliche Missionierung der Juden ausgesprochen und die Verstärkung der jüdischen Frömmigkeit gefordert.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir und heißen es gut, daß Papst Johannes Paul II. die historisch bedeutsame Vergebungsliturgie am vergangenen Sonntag mit der katholischen Welt gefeiert hat.
Indem wir uns die Worte des Papstes zu eigen machen, rufen wir unsere rabbinischen Verantwortlichen auf, den Dialog und das Zusammengehen mit unseren römisch-katholischen Nachbarn zu intensivieren. Zu diesem historischen Zeitpunkt, da ein Papst erstmals eine Pilgerreise in den souveränen jüdischen Staat macht, möge die inspirierende Führung von Papst Johannes Paul II. uns zu einer größeren Versöhnung, Freundschaft und Partnerschaft führen, indem wir ,tikkun olam‘ (andauernde Wiederherstellung) bewirken.
Rabbiner Charles Kroloff,, Präsident der Zentralkommission der Amerikanischen Rabbiner;
Rabbiner Paul Menitoff, Exekutiv-Vizepräsident der Zentralkonferenz der Amerikanischen Rabbiner;
Rabbiner Seymour Essrog, Präsident der Rabbiner-Versammlung;
Joel Myen, Exekutiv-Vizepräsident der Rabbiner-Versammlung.
Viele Menschen in Israel, in den USA und in Europa sind darüber betroffen, daß der Papst bei seinem Schuldbekenntnis die Schoa nicht ausdrücklich genannt hat. Rabbiner Israel Meir Lau meldete sich darüber „tief frustriert“ zu Wort. Demgegenüber warnte Professor Dr. Zwi Werblowsky vor einem lauten Versöhnungsgerede, das die Tragödien, Ungerechtigkeiten, Feigheiten und auch das Gemeinsame verneble. Rabbiner David Rosen, Präsident des Internationales Rates von Christen und Juden (ICCJ), Direktor des Israel-Büros der Anti-Defamation League, Mitglied der Kommission für ökumenische Beziehungen des American Jewish Committee und Kontaktperson Israels zum Vatikan hingegen meint, daß auch die Schoa auf die Dauer ihren Platz im Bewußtsein der katholischen Kirche finden werde. Es handle sich ja bei der Erklärung des Papstes „um eine Gebetsformel, die der Papst allen gläubigen Katholiken diktierte, eine Formel, die von nun an in die Messen des Tages der Vergebung und ähnlichen Zeremonien eingeschlossen werden wird“.
Hoffen wir, daß Rabbi Rosen recht bekommen wird. Gemeinsame Buß- und Versöhnungsliturgien gehören zum inneren Leben der Kirchen. Sie können Einsichten über falsches Reden und Handeln sowie Neumotivierungen des Glaubens und der Mitmenschlichkeit hervorbringen. Die Versöhnung muß Teil des Bewußtseins aller Menschen werden. Nur daraus kann die Wurzel des Friedens heranwachsen
- Text und Kommentar im FrRu 5(1998)161-177.
- Deutsch: Erinnern und Versöhnen, Die Kirche und ihre Verfehlungen in ihrer Vergangenheit, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg/Br. 2000.
- Der Text aller Vergebungsbitten findet sich zusammen mit den Kommentierungen des Papstes in der deutschen Ausgabe des Osservatore Romano Nr. 11, 17. März 2000, S. 6.
Jahrgang 7/2000 Seite 161