Zum 27. Januar 2000, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, hatte der Deutsche Bundestag den jüdischen Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel zur Feierstunde im Reichstagsgebäude in Berlin eingeladen. Elie Wiesel hatte als junger Mann das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt, während seine Eltern und seine kleine Schwester ermordet wurden. Wir bringen Auszüge aus seiner Rede.
Lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen, doch zuvor hoffe ich auf Ihr Verständnis, daß ich als Zeuge zu Ihnen spreche. Und ein Zeuge muß beschwören, daß er die Wahrheit spricht. Der Jude, der ich bin, glaubt dazu ein Gebet sprechen zu sollen ... Es stammt aus dem Buch Baruch und heißt: „Gepriesen sei der Herr, daß er mich heute hier sein läßt.“ Und nun zu der Geschichte.
„Es war einmal, da lebte in einem fernen Lande ein guter König. Eines Tages sagten ihm seine Sterndeuter, die nächste Ernte werde verflucht sein, und wer von ihr esse, verfalle dem Wahnsinn. Also ließ er einen riesigen Kornspeicher bauen und lagerte dort alles ein, was von der letztjährigen Ernte übrig geblieben war. Sodann vertraute er den Schlüssel zum Kornspeicher seinem engsten Freund an und sagte zu ihm: ,Wenn meine Untertanen und ihr König vom Wahnsinn befallen sein werden, sollst du ganz allein das Recht haben, den Kornspeicher zu betreten und unverseuchte Nahrung zu essen. Auf diese Weise entgehst du dem Fluch. Dafür aber fällt dir eine lebenswichtige und unmögliche Aufgabe zu. Du mußt kreuz und quer durch die Welt wandern von einem Lande zum andern, von Stadt zu Stadt, von Marktflecken zu Marktflecken und von Person zu Person und aus Leibeskräften rufen: Gute Leute, vergeßt nicht, daß ihr wahnsinnig seid! Frauen und Männer, vergeßt nicht, vergeßt doch bitte nicht, daß ihr wahnsinnig seid!“
 |
Elie Wiesel, Auschwitz-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, vor dem Bundestag am 27. Januar 2000. Foto: dpa |
Diese Erzählung des großen Rabbi Nachman von Brazlaw, einem Vorläufer von Franz Kafka, gilt gewiß für das Jahrhundert, das eben zu Ende ging, ein Jahrhundert, in dem in der Geschichte der Wahnsinn ausbrach und sie oft zum Alptraum werden ließ. Darum gehen auch wir Zeugen durch die Welt, um einfach zu verkünden: „Vergeßt nicht, daß Ihr wahnsinnig wart, vergeßt nicht, daß die Geschichte den Wahnsinn beherbergte.“ Der Mann, den Sie liebenswürdigerweise zur Teilnahme an dieser bewegenden Feierstunde in Erinnerung an die Opfer dessen einluden, was wir so unzureichend mit Schoa oder Holocaust bezeichnen und wofür es keine Worte gibt, ist der Sohn eines alten Volkes, dessen Auftrag über die Jahrhunderte darin bestand, den einzigen Gott und die Heiligkeit des menschlichen Lebens zu verkünden. Vor sechzig Jahren wurden er und seine Gemeinschaft in dieser Metropole und Weltstadt der Isolation, dem Elend, der Verzweiflung und dem Tod überantwortet. Dennoch spricht er heute zu Ihnen als Zeuge, und ich hoffe, Sie glauben mir, daß ich zu Ihnen ohne Haß und Bitterkeit spreche. Mein ganzes Erwachsenenleben lang habe ich versucht, Worte zu finden, die den Haß bekämpfen, aufspüren, entwaffnen — nicht ihn verbreiten.
... Während meiner Vorbereitung auf meine heutige Begegnung mit Ihnen — die ich auf mehr als nur einer Ebene symbolisch empfinde — habe ich gewisse Berichte von Überlebenden und Zeugen wieder gelesen, die zum Teil noch leben, zum Teil schon tot sind. Und wieder traf mich mit voller Wucht die ewige Gleichartigkeit der grausamen Szenen. Es ist, als habe ein einziger Deutscher, immer derselbe, je und je immer nur ein und denselben Juden gequält und getötet, sechs Millionen Mal. Und doch ist jede Episode so unverwechselbar einmalig, wie jeder nach Gottes Bildnis geschaffene Mensch einmalig ist.
Das ist der Grund, warum ich — ich bin kein Historiker — nicht von der Geschichte spreche, sondern einfach Geschichten erzähle ...
Das Urteil, welches das Dritte Reich über uns sprach, war tödlich und unwiderruflich. Die bis ins kleinste geplante Endlösung war geradezu eschatologisch; ihr Ziel war die Vertilgung auch noch des allerletzten Juden vom Antlitz der Erde. Dieses Ziel stand über allen anderen; so genoß beispielsweise die Deportierung der ungarischen Juden, zu denen ich gehöre, Vorrang vor dem Transport der dringend benötigten Soldaten zur Front ...
Ich weiß, daß nicht alle Deutschen mitmachten, und auch an sie müssen wir denken. An jene, die den Mut hatten, sich gegen die amtliche Rassenideologie zu stellen. Jene, die dem totalitären Nazi-Regime widerstanden. Jene, die es zu stürzen versuchten und mit ihrem Leben dafür bezahlten. Zu Recht ehren Sie ihre Tapferkeit. Nur, leider, waren es wenige. Und die, die jüdischen Freunden und Nachbarn beistanden, waren noch weniger ...
An diesem Ort versuchen die neuen Führer des deutschen Volkes tapfer und ehrenvoll ein neues Schicksal aufzubauen. Eine menschlichere Philosophie für die Lebenden, und wir sind gekommen zu sagen, wie sehr wir dies begrüßen ...
Ich sehe mich veranlaßt, hier zu wiederholen, was ich überall sage: Ich glaube nicht an Kollektivschuld; nur die Schuldigen sind schuldig; nur sie und ihre Komplizen. Nicht jene, die damals noch nicht waren, und schon gar nicht die Kinder. Die Kinder von Mördern sind nicht Mörder, sondern Kinder ...
Bundespräsident Rau, vor ein paar Wochen haben Sie sich mit einer Gruppe von Auschwitz-Überlebenden getroffen. Einer davon erzählte mir, Sie hätten etwas sehr Bewegendes gesagt. Sie baten um Verzeihung für das, was das deutsche Volk ihnen angetan hat. Warum dies nicht auch hier tun, im Geist dieses feierlichen Tages? Warum soll nicht der Bundestag dies Deutschland und seinen Verbündeten und Freunden und insbesondere den jungen Menschen sagen? Haben Sie das jüdische Volk gebeten, Deutschland zu verzeihen, was das Dritte Reich in Deutschlands Namen so vielen von uns angetan hat? Tun Sie es, und es wird in der Welt widerhallen. Tun Sie es und dieser Gedenktag erhält eine noch größere Dimension. Tun Sie es, und die Welt wird wissen, daß ihr Vertrauen auf Deutschland nun wahrhaft gerechtfertigt ist ...
Oben sagte ich, daß ich Geschichten bevorzuge. Lassen Sie mich schließen mit der Geschichte eines kleinen Judenmädchens, das gemeinsam mit seiner Mutter in der Nacht ihrer Ankunft in Birkenau im Mai 1944 getötet wurde. Acht Jahre war das Mädchen alt und hatte nichts getan, was Ihrem Volk hätte schaden können — warum mußte es diesen gräßlichen Tod erleiden? Und würde ihr Bruder so alt wie die Welt, er würde es niemals begreifen. Darum zitiert er einfach einen anderen großen chassidischen Meister, Asasow von Galizien. Er war für sein Mitgefühl bekannt und sagte:
„Meine Freunde, wollt ihr den Funken finden?
Sucht ihn in derAsche.“
Jahrgang 7/2000 Seite 194