Ein Kommentar zur Erklärung der Schweizer Bischofskonferenz vom 14. April 2000
Die großen Bischofskonferenzen von Deutschland und Frankreich haben sich mit diesem Thema schon vor einigen Jahren beschäftigt. Die Schweizer Bischöfe hielten dies offenbar für nicht notwendig, bis zweierlei erfolgte. Einmal die Zerstörung des Mythos schweizerischer Unschuld am Schicksal der Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs, und ferner die im Sinne von Papst Johannes Paul II. für das Jahr 2000 gewünschte „Reinigung“ des Gedächtnisses der Kirche. Das bedeutet „ein Geständnis der Schuldfür alle Leiden und Kränkungen, die von Söhnen und Töchtern der Kirche in der Vergangenheit anderen zugefügt“ wurden. Die katholische Kirche der Schweiz bekennt ihre Mitschuld, daß vielfach zu wenig für die Rettung des Lebens und der Würde verfolgter Menschen getan wurde, besonders für die in der Schweiz Einlaß suchenden jüdischen Flüchtlinge. Es gilt daher, aus der Vergangenheit zu lernen.
Früher schon hatten die Schweizer Bischöfe sich in einer Erklärung „Antisemitismus: Sünden gegen Gott und die Menschlichkeit“ gegen den Antisemitismus gewandt (1992). In der neuen Erklärung wird zwar auch darauf hingewiesen, daß einzelne führende Katholiken sich vor dem Krieg gegen den Rassenwahn ausgesprochen hatten; aber während des Zweiten Weltkrieges wurde zu wenig getan, um jüdische und andere Flüchtlinge vor Verfemung, Verfolgung und Ermordung zu schützen:
„Es schmerzt uns Heutige, daß auch die katholische Kirche in der Schweiz in jenen Jahren bezüglich der konkreten Hilfeleistung in zu großer Passivität, Selbstbezogenheit und Ängstlichkeit verharrte.“
Die Bischöfe beklagen heute, daß die Untaten gegenüber dem jüdischen Volk in Predigt und Katechese fast nie zur Sprache kamen.
„Weder Theologen noch christliche Publizisten, weder Religionslehrer noch Vertreter der Kirchenleitung haben sich in dieser Zeit entschieden gegen den religiösen Antijudaismus gewandt und erst recht nicht den schleichenden, aus verschiedenen Quellen gespeisten Antisemitismus im Schweizer Volk verurteilt.“
Dies führte dazu, daß man die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Schweizer Grenze als notwendiges Übel hinnahm. Vielleicht hätte hier noch eingefügt werden können, daß die Zurückweisung den Tod der meisten Juden und Jüdinnen zur Folge hatte und das sogenannte Boot nur für Juden voll war, für andere jedoch nicht.
Die Bischöfe gedenken der sechs Millionen jüdischer Ermordeter und aller während der Nazizeit Terrorisierten. Sorge bereitet den Bischöfen wiederauflebender Antisemitismus, wobei besonders in Rußland die sogenannten, längst als Fälschung erwiesenen „Protokolle der Weisen von Zion“ eine Rolle spielen. Richtig sehen die Bischöfe, daß in der Schweiz eine Neigung besteht, Unrecht und Profitstreben von Schweizern während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zu verharmlosen und statt dessen die Juden zu beschuldigen, sie wollten sich an der Schweiz bereichern. Sie begrüßen es daher, daß die Rolle der Schweiz und seiner Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges ehrlich und detailliert untersucht wird. In großartiger Weise wird über den Umgang mit der Erinnerung gesprochen, wenn es heißt:
„Erinnerung an das Geschehene und Übernahme von Verantwortung für das den Opfern der Schoa und ihren Angehörigen durch unsere Mitbürger geschehene Unrecht ist eine nachzuholende Pflicht der Gerechtigkeit und unseres Glaubens an den einen Gott, der alle Menschen in gleicher Weise liebt. Die Kirche ist nicht nur eine Gemeinschaft in der Gegenwart, sie umschließt auch die Generationen der Vergangenheit und der Zukunft.“
Im folgenden fordern die Bischöfe alle mit Predigt, Religionsunterricht, Geschichte und Lehre Betrauten auf, sich jeglicher demagogischen Beschuldigungen und Äußerungen zu enthalten.
Ein weiterer Abschnitt behandelt „Kirche und Judentum“. Hier wird die Verbundenheit zwischen Judentum und Christentum dargestellt, vor allem auch der unlösbare Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat:
„Alle Völker und Sprachen — besonders die Kirche — sind aufgerufen, den Bund Gottes mit seinem jüdischen Volk anzuerkennen.“
Die im folgenden entwickelte Christologie ist selbstverständlich von christlicher Seite her legitim, zumal wenn schlicht und ohne weiteren Kommentar festgestellt wird: „Die Juden teilen diese Sicht des christlichen Glaubens nicht.“ Juden hatten allen Anlaß anzunehmen, „daß das Christentum von Natur aus gegen das Judentum feindlich beziehungsweise antisemitisch eingestellt sei“. So wie in Jerusalem Papst Johannes Paul II. erklärte, daß dafür nun keinerlei Anlaß mehr bestehe, zeigen auch die Schweizer Bischöfe auf, daß seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein fruchtbarer jüdisch-christlicher Dialog in Gang gekommen ist, der zu Hoffnungen berechtigt und für den wir dankbar sind. Dies konnte auch deshalb erfolgen, weil die katholische Kirche seit Jahrzehnten jede Form der Judenmission ablehnt und keine Institutionen mehr besitzt, die Judenmission betreiben. Es ist Zeit, daß Juden und Jüdinnen diese Tatsache endlich zur Kenntnis nehmen; für nichtkatholische Fundamentalisten und Sektierer ist die Kirche nicht verantwortlich. Die Bischöfe fordern, daß Christen ihr Gewissen von allen Gedanken des Fremden- und Judenhasses befreien und freihalten, damit aus solchen geheimen Aggressionen niemals mehr verbrecherische Taten herauswachsen:
„Als Christen und Christinnen müssen wir uns unbedingt dafür einsetzen, daß das jüdische Volk nie wieder verachtet, verfolgt und in eine Schoa getrieben wird.“
Der Text dieser Erklärung ist durchaus bemerkenswert und geht über das hinaus, was anderwärts gesagt worden ist. Vor allem wird hier auch die katholische Kirche als Institution als mitschuldig bezeichnet, nicht nur einzelne irrende Christen und Christinnen. Es ist also auch die Institution, die in ihrer Menschlichkeit gescheitert ist. Insofern ist die Erklärung zutreffend und entspricht der Wahrheit.
Ein Gedanke freilich fehlt, und das ist schwer verständlich. Der rassistische Judenhaß der Nazis, der als solcher mit der Kirche nichts zu tun hat und anders geartet ist, hätte sich kaum so durchsetzen können, wenn es nicht über fast zwei Jahrtausende die kirchliche Judenfeindschaft gegeben hätte. Sie ist der Boden, auf dem das Gift des säkularen Judenhasses sich ausbreiten konnte. Man kann daher die kirchliche Judenfeindschaft nicht vom säkularen Antisemitismus trennen. Warum dieser Gedanke in der sonst so aufrichtigen und weitgehenden Erklärung fehlt, ist schwer einzusehen.
Die Schweizer Bischöfe haben das getan, was an der Zeit war. Eine Frage jedoch stellt sich, und hier sind die Bischöfe nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen: Wie kommt diese von hoher Ethik und durchaus ernster Theologie getragene Erklärung an das Kirchenvolk? Wie erfahren die Pfarrer, Religionslehrer und Katecheten davon mehr als einen kurzen Hinweis? Wie setzen die Bischöfe ihre Gedanken in die Tat um, damit wirklich die Reinigung des Kirchenvolkes erfolgen kann, die mit dieser Erklärung angestrebt wird? Was geschieht oder kann geschehen, damit aus guten Gedanken und gutem Willen Wirklichkeit wird? Wir können nur hoffen, daß sich die Schweizer Bischofskonferenz auch damit intensiv beschäftigt und ihre Erklärung nicht als Pflichtübung ansieht.
Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Prof. em. für Judaistik an der Universität Bern, ist Generalsekretär der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft der Schweiz und Mitglied der Jüdisch-Römisch-Katholischen Gesprächskommission in der Schweiz.
Jahrgang 7/2000 Seite 201