Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Aufbau-Verlag, Berlin 1999, hebräische Originalausgabe 1995. 246 Seiten.
Die israelische Autorin Anat Feinberg ist im deutschsprachigen Raum vor allem als Herausgeberin von Anthologien israelischer Literatur und als Professorin an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg bekannt. Mit Das Leben und andere Irrtümer thematisiert Anat Feinberg eine vorsichtige deutsch-israelische Annäherung am Verhältnis der jungen Israelin Maja zu ihrem Mann Shaul einerseits und zu dem wesentlich älteren Professor Klaus Stern andererseits. Die Ich-Erzählerin Maja lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn Benny zeitweilig in Deutschland, wobei sich Shaul vom deutschsprachigen Europa mehr angezogen fühlt als von Israel, wo er aufgewachsen war. Maja hingegen kann sich in dem Land mit der schwer belasteten Vergangenheit nicht einleben. Einzig mit dem deutsch-jüdischen Klaus Stern knüpft sie eine Bekanntschaft an, die zu einer Liebesbeziehung wird.
In diese Ebene von heutigem Geschehen greift eine zweite Erzählebene aus der Zeit des Nationalsozialismus, denn der Roman besteht aus verschiedensten Teilgattungen, die das Gesamtbild formen: Klaus Sterns Aufzeichnungen aus der Zeit des Dritten Reiches, das Tagebuch von Shauls Vater, der Kommentar der Tante Shauls zu einer Reihe alter Jugendfotos. Im Wechsel mit solchen Textsorten treten Momentaufnahmen und Dialoge der Gegenwartsebene auf, welche die Handlung weiterführen. Das Ineinandergreifen der zwei Zeitebenen sowie die unterschiedlichen Teilgenres entsprechen dabei einer vorsichtigen Annäherung an die Wahrheit, oder wie es die Figuren ausdrücken: Das Puzzle dieses Romans erscheint wie ein Zusammenfügen von Scherben, bei dem die Wahrheit nicht in einem Teil, in einer Version liegt, sondern zwischen allen Versionen.
So wie die Teilgattungen und die Sprachen, in denen sie verfaßt sind — deutsch die Texte von Klaus, hebräisch die Texte von Maja —, nur ganz bedingt zueinander finden, so bleibt auch die deutsch-israelische Annäherung nur in Ansätzen verhaftet: Mit Ausnahme von Klaus nimmt Maja ihr deutsches Umfeld fast nicht wahr. Diese implizite Haltung formuliert die Erzählerin am Schluß des Romans explizit, wenn sie über Deutschland sagt: „Wir waren monatelang hier, und ich kenne es überhaupt nicht. Weder habe ich in die Gesichter der Leute geschaut noch ihnen zugehört.“ Jüdische Innenwelt und deutsche Außenwelt klaffen stark auseinander, und diese eigene Unüberbrückbarkeit wird Maja am Beispiel ihres Sohnes Benny schmerzlich klar, der diesen Abgrund in kindlicher Unbefangenheit überschreitet. Die nächste Generation wird die Kluft überwinden können.
Am Schluß werden die Fronten ein wenig aufgeweicht, ohne indes zu verschwinden. Nicht nur Klaus, sondern auch Shaul ist eine Schlüsselfigur im Verhältnis von Maja zu Deutschland. In diesem Sinn sagt Maja über Shaul: „Von ihm lernte ich, daß nicht alle Eisenbahnschienen nach Auschwitz führen. Und ich lernte, daß die Stimme im Lautsprecher, die ,Achtung‘ rief, nicht zwischen Juden und Nichtjuden unterschied. Mit Shauls Hilfe befreite ich mich von den Klischees meiner Kindheit.“ Gerade im Ausgang der Beziehungen Majas zu Klaus und Shaul wird die israelische Annäherung an Deutschland symbolisch umgesetzt. Eine raffinierte Rahmengeschichte stellt schließlich die Frage, ob und wie die Texte von Klaus und Maja zueinander finden. Im vorliegenden Buch von Anat Feinberg haben sie es offensichtlich getan — trotz allem ein hoffnungsvoller Ausblick im deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Dialog.
Gabrielle Oberhänsli-Widmer
Jahrgang 7/2000 Seite 211