Das jüdische Gebetbuch. Hebräisch-Deutsch. Aus dem Hebräischen von Annette Böckler. 2 Bde. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997. 632 und 736 Seiten.
Dieses neue Gebetbuch basiert auf den „Forms of Prayer“ der englischen Reformbewegung (1977-1995). Der erste Band enthält die Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste sowie für besondere Tage und Gelegenheiten. Der zweite Band ist den Hohen Feiertagen reserviert. Das hier vorgelegte Gebetbuch dürfte dem Anspruch, das jüdische Gebetbuch zu sein, freilich kaum genügen. Die Schwierigkeit scheint mir schon im ersten Absatz des Vorworts zum ersten Band (11) zu liegen: „Sie [die Liturgie einer bestimmten Gemeinde] ... schließt andere aus, die sich dieser bestimmten Gemeinde oder dieser bestimmten Form des Gottesdienstes nicht anschließen können.“ Hier scheint die heute so viel diskutierte Dialektik von Ausgrenzung und Eingrenzung auf. Als ob jemals jemand einer Synagoge verwiesen worden wäre, weil er, aus einer anderen Tradition kommend, dem betreffenden Gottesdienst nicht folgen konnte! Woran es vielmehr zu fehlen scheint, ist die Bereitschaft des einzelnen, sich in eine Tradition einzufügen, wozu auch ein Stilgefühl gehört. Ein konkretes Beispiel ist im vorliegenden Fall die Einführung zweier Dichtungen aus dem sefardischen Bereich in der Liturgie der Hohen Feiertage; kennen aschkenasische Gemeinden die entsprechenden Melodien, ohne die diese Dichtungen sehr viel von ihrer atmosphärischen Wirkung verlieren müßten? Kann man sich einen Chorsatz von Lewandowski in einer sefardischen Synagoge mit ihrem völlig anderen Raumgefühl vorstellen? War die Liturgiereform zunächst rein ästhetischer Art (wie sie es in Frankreich und Italien auch geblieben ist), bekam sie in Deutschland bald auch ideologischen Charakter. Manche der wichtigsten Themen, an denen die Reform Anstoß nahm, nennt Magonet im Vorwort (12). So findet man im neuen Gebetbuch das Andenken an die Schoa und den israelischen Unabhängigkeitstag (das Gebet für den Staat Israel ist stark verändert), auch das in der früheren Reform umstrittene Purimfest, nichts aber zum Neunten Aw, dem Gedenktag der Tempelzerstörungen, der auch die Erinnerung an die Kreuzzüge und die Talmudverbrennung umfaßt. So ist denn auch die Bitte um Rückkehr nach Jerusalem im Achtzehngebet in der Übersetzung umgebogen worden. Da sieht sich der Rezensent veranlaßt, in Erinnerung zu rufen, worauf sich jüdische memoria bezieht: Schöpfung, Väter, Exodus, Sinai und Jerusalem; diese Aufzählung ist abschließend. Niemand weiß, wie lange noch der Schoa liturgisch gedacht werden wird (wer feiert die Vertreibung aus Spanien oder die Vernichtung der polnisch-ukrainischen Juden 1648/49?). Wenn man die Grunderinnerung an Jerusalem streicht, versinkt die Erinnerung an die Schoa ganz gewiß in noch kürzerer Zeit.
Daß heutige jüdische Frauen sich nicht gerne ausgrenzen lassen, ist gut verständlich; darum schlagen die Herausgeber eine alternative Fassung der ersten Eulogie des Achtzehngebets vor. Sehr stark ist die universalistische Tendenz dieses Gebetbuches. Nun gibt es ja eine hinreichende Menge biblischer Belege dafür. Wäre es gerade in der heutigen Zeit des Universalismus (Globalisierung genannt) nicht angebracht, sich auch des Partikularen zu erinnern, ohne welches das Universale zum undefinierbaren Formlosen würde und seine Bewohner zur Heimatlosigkeit verdammte? Freilich findet man dann doch in der Havdala die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern. Daß das Gebetbuch mit dem Freitagabend beginnt, dürfte einer weit über die Reformbewegung hinaus verbreiteten Praxis entsprechen, sollte aber doch nicht normativ werden. Im Morgengebet der Wochentage finden sich dann erstaunlich „altmodische“ Gebete, zu sprechen, „wenn“ Tallith und Thefillin gelegt werden. Heißt hier „wenn“: „an Tagen, an denen ...“ oder heißt es: „sofern man sich dazu versteht ...“?
Echte Liberalität herrscht in der Auswahl der fakultativen Meditationstexte, die auch orthodoxen Autoren entnommen sind. Diese Anreicherung mag von vielen begrüßt werden, birgt jedoch die Gefahr, daß die feste, für eine ganz bestimmte Gemeinde charakteristische Liturgie zu einem nach Gefühl und Wellenschlag zu leitenden Happening wird. Damit kann die Liturgie aber weder Heimat schaffen, noch — ein wenn auch reduziertes — Heimatgefühl geben. Die Übersetzung liest sich leicht und angenehm: Gutes Deutsch, das sowohl hohe Poesie als auch die Umgangssprache zu meiden weiß. Der Unterschied zwischen Du und Er in den Eulogien ist verwischt (in der Tat eine Schwierigkeit); was auf S. 289 des zweiten Bandes steht, ist keine Übersetzung des Kol Nidre (seit wann heißt jerazu „sie mögen eilen“?), und woher der Zusatz II 375 kommt, bleibt schleierhaft. Die Übersetzung eines Satzes von Rabbi Nachman (II 254 f. unten) ist eine glatte Verfälschung, und die Bezeichnung des Baal Schem Tov als „Besitzer eines guten Namens“ zeugt von erheblicher Ignoranz. Ruach haq-qadosch, „der Geist Gottes“, ist biblisch nicht belegt und rabbinisch höchst unwahrscheinlich; soll hier eine neue theologische Kategorie geschaffen werden?
Im Ganzen haben wir ein interessantes, gut lesbares und vom Verlag sauber und handlich gestaltetes Zeitzeugnis vor uns, das manchen Gemeinden dienlich sein wird, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit jedoch nicht erheben sollte.
Simon Lauer
Jahrgang 7/2000 Seite 215