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Pimpl, Brigitte

Zu zayn a Mentsch – Mensch sein

Die Geschichte einer Frau. Labhard-Verlag GmbH, Konstanz 1999.77 Seiten, 11 Abb. Zu beziehen über Maus Druck + Medien GmbH, Konstanz.

Die pensionierte, Ivrith sprechende Lehrerin Brigitte Pimpi, Jerusalem, arbeitet ehrenamtlich im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem. Dort hatte sie die Auschwitz-Überlebende Sarah Ehrenhaft kennengelernt und zur Freundin gewonnen. „Eigentlich bin ich ja wohl am Leben geblieben, lebendiges Zeugnis abzulegen gegen das Vergessen“, sagt Sarah Ehrenhaft. Und so ist sie immer wieder unterwegs, hält Vorträge, holt die Bilder heraus aus dem Erinnerungsschacht: in den Schulen, vor Soldaten, Studenten und Reisegruppen. Sie stellt dabei nicht ihre Person heraus, sieht sich weder als Heldin, Opfer oder Märtyrerin. Aber die Angst treibt sie um, das alles könnte vergessen und in Gedenkritualen versteinert werden.

„Von 150 Familienmitgliedern bin nur ich übriggeblieben und mein Cousin Menachem Fchlaks.“ Mit 8 Geschwistern ist Sarah im ostgalizischen Przemysl aufgewachsen, „arm aber glücklich“. Humorvoll und mit Temperament schildert sie, wie schön ihre Kindheit war. Durch das Städtchen mit seinen je 20 000 Polen, Ukrainern und Juden fließt der San, den Hitler und Stalin in jenem Schandpakt zur Trennlinie ihrer Machtsphären erkoren haben. Sarahs Familie wohnt auf der russischen Seite. Nach dem Überfall auf Polen erlebt ihre Schwester den ersten Massenmord an den Juden im deutsch-besetzten Teil der Stadt: „500 Schüsse — 500 Männer fielen in die selbstgeschaufelte Grube.“ 1941, 19jährig, heiratet Sarah. Kaum überrennen die Deutschen die Grenze, werden im Ostteil der Stadt viele tausend Juden ins Getto gezwungen. Dort bringt sie Avram zur Welt. Monate später flieht ihr Mann aus dem Lemberger Arbeitslager, um endlich seinen Sohn zu sehen. Sarah muß mit ansehen, wie der Gettokommandant Schwamberger ihren Mann niederschießt. „Was hatte er verbrochen? Danach fragte zu dieser Zeit niemand mehr; Gründe gab es immer ...“ Sarah lebt jetzt mit Avram in einem Kellerbunker-Versteck. Kaum ein Jahr alt, stirbt ihr Söhnchen an Auszehrung, aber sein Tod rettet ihr wundersam das Leben. Das Getto wird stufenweise aufgelöst. Tausende kommen ins Vernichtungslager Belzec, darunter Sarahs Eltern und Geschwister. Sarah kommt nach Auschwitz.

Was sie dort erlebt und wie sie überlebt, wie sie durch alle Höllentore geht von der „Selektion“ bis zum Todesmarsch im Januarwinter 1945, bei dem ihr die Flucht gelingt, bis dann im Gehöft eines Dorfpriesters die Ängste allmählich abflauen und der Kampf um einen neuen Anfang ihres geschundenen Lebens beginnt —, das ist ohne jedes Pathos, aber auch ohne Umschweife schlicht wiedergegeben. Und darin besteht die Besonderheit dieses komprimierten Berichtes: Der Ton liegt nicht zuerst auf dem Schrecklichen und Einmaligen des Erlittenen. Brigitte Pimpl will eine Frau vorstellen, die zwar gegen das Vergessen ankämpft, deren unsägliche Verwundungen aber nicht in Verbitterung münden, sondern in einem positiven Reifungsprozeß: „Zu zayn a Mentsch“ — „in all seinen Höhen und Tiefen, beherrscht von der Wärme des Herzens“. „Warum mußte ich überleben?“, diese Frage, oft von Schuldgefühlen begleitet, hat sie sich auch gestellt. Sie war oft nahe daran, Schluß zu machen, „endlich sterben zu dürfen“. Aber dann fand sie die beseligende Antwort: „Vielleicht muß ich ja doch am Leben bleiben, weil die anderen mich brauchen, jeden Tag und jede Stunde ...“ Der Keim der Hoffnung, „ein Mensch sein“ zu können trotz unmenschlichster Erniedrigung, der ist nicht zu vernichten.

Dankwart-Paul Zeller


Jahrgang 7/2000 Seite 217



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