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Reich-Ranicki, Marcel

„Mein Leben“

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 566 Seiten.

Da erzählt einer sein Leben, der wahrhaftig etwas zu erzählen hat. Er erzählt lebendig, wie man eben erzählt, von einer Begebenheit ausgehend, in die Vergangenheit oder in die Zukunft schweifend. So ein Erzählen, wird es denn aufgeschrieben, verlangt hohen Kunstverstand, und den hat Marcel Reich-Ranicki in Sachen Literatur. „Mein Leben“ ist ein sehr schönes, ja spannendes Buch, sehr ehrlich und — entgegen dem ersten flüchtigen Eindruck — auch bescheiden. Selbstverständlich steht die Person Marcel Reich-Ranicki im Mittelpunkt, und da diese Person gescheit und klug ist, weiß sie um ihren Wert. Es wäre heuchlerisch, würde dieses Wissen verschämt kaschiert. Das Bekenntnis Lord Disraelis trifft auch auf Marcel Reich-Ranicki zu: „I am from a race which never forgives an injury nor forgets a benefit.“ Auch Marcel Reich-Ranicki vergißt keine Hilfe oder Wohltat, die er in seinem ereignisreichen und gefahrvollen Leben im Warschauer Getto, als angehender Kritiker in Polen und später als beinahe absolute Literatur-Autorität erfahren hat. Aber ebensowenig verzeiht er, was man ihm angetan hat, denn die Juden sind dünnhäutig geworden im Laufe der Generationen und erst recht in unserem Jahrhundert. Sie spüren den ätzenden Antisemitismus auch dort, wo er unterschwellig und für Nichtjuden kaum bemerkbar erscheint.

Ist es überhaupt vorstellbar, was Reich-Ranicki empfunden haben muß, als ihm sein Freund Joachim Fest zugemutet hat, bei der Vernissage seines Buches über Hitler dem früheren Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, gegenüberzustehen und die Hand zu reichen? Um keinen Skandal zu verursachen und die Buchpräsentation nicht zu stören, ertrugen Marcel und Tosia Reich-Ranicki diesen bodenlosen Affront; was auf der Strecke blieb, war die Freundschaft. Nur in diesem Zusammenhang gebraucht Reich-Ranicki ein einziges Mal die Wörter Massenmörder und Verbrecher. Diskretion im Detail und Offenheit im Allgemeinen sind hervorstechende Eigenschaften Marcel Reich-Ranickis. Er erzählt hinreißend über seine Liebe zur deutschen Literatur, seinem „portativen Vaterland“. Er hat ja sonst keine Heimat: als polnisches Kind nach Deutschland gekommen, als junger Mann ins Warschauer Getto deportiert, als Erwachsener via London wieder zurück nach Deutschland. Literatur ist für ihn das Lebenselixier par excellence. Die Liebesgeschichte mit seiner Frau Tosia ist zart und berührend. Nicht verschwiegen wird seine Dankbarkeit ihr gegenüber, die Getto, Auswanderung und Ungewißheit mit ihm teilte. „Mein Leben“ ist diskret, verschweigt aber nichts Wesentliches. Reich-Ranicki ist sehr persönlich in den literarischen Urteilen, die er begründet und zu denen er steht. Daß er zwischen seinem fachlichen Urteil über ein Werk und dem menschlich subjektiven über den Verfasser immer unterscheidet, macht das Buch so wertvoll. Bewundernswert ist auch sein stupender literarischer Horizont, sein unerhörtes Gedächtnis, das ihm und Tosia dann auch im letzten Kriegsjahr im Versteck bei Bolek, dem arbeitslosen polnischen Setzer, das Leben rettet. Marcel Reich-Ranicki, der am 2. Juni 2000 seinen 80. Geburtstag begeht, ist für dieses Buch zu danken und es ist zu wünschen, daß es in den Schulen Pflichtlektüre werde.

Eva Auf der Maur


Jahrgang 7/2000 Seite 219



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