Hrsg. von Klaus Müller/Alfred Wittstock. Foedus-Verlag, Wuppertal 1997. 521 Seiten.
Der 65. Geburtstag von Martin Stöhr — zunächst Studentenpfarrer in Darmstadt, danach Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain und schließlich Professor an der Gesamthochschule Siegen ist den Herausgebern Anlaß, um eine ,vorläufige Bilanz‘ zu ziehen und Zeugnisse der immensen Schaffenskraft Stöhrs einer größeren Leserschaft vorzustellen.
Die hier zusammengestellten Arbeiten Martin Stöhrs aus einem Zeitraum von über dreißig Jahren lassen als roten Faden eine „Werktreue“ erkennen, die auf spannende Weise immer wieder versucht, das biblische Wort unter den Bedingungen von Zeit und Gesellschaft neu auszulegen. Exegese ist für Stöhr immer „eine Frage nach dem Tun der Wahrheit“ und daraus „Dreinreden“ fordert. Ökumenisch ist ein solches Denken und Wirken allemal, zumal wohl auch nur Ökumene Korrektiv eigener Kirchen- und Gesellschaftsanalyse sein kann. Dies spiegeln, als ersten Schwerpunkt, die vorliegenden Arbeiten wider. Dabei hat nach Stöhr „der christlichen Aufgabe einer ecclesia semper reformanda ... eine societas semper reformanda“ zu entsprechen. Deshalb redet, schreibt und handelt Martin Stöhr gegen einen Glauben, der „wie ein gefrorener Wasserfall in Dogmen, Lehrsätzen, Institutionen und Gewohnheiten erstarrt bleibt“.
Das christlich-marxistische Gespräch — zweiter Schwerpunkt dieses Sammelbandes — tritt für Martin Stöhr schon in den Blickpunkt zu einer Zeit, als bei den Kirchen „Antikommunismus nur allzuoft an die Stelle des biblischen Credos“ getreten war. Nahezu die gesamte Nachkriegsgeschichte in Deutschland gerät für Stöhr zum Beispiel für die „Gefangenschaft der Kirche durch selbstgewählte Anpassung“. Anhand des Prager Theologen Joseph L. Hromádka (1889-1969) verweist Stöhr auf ein Vorgehen, das für viele Handlungsfelder zu beobachten war und ist: „... man hatte ihn eingeordnet, ehe man ihn angehört hatte ...“. Und dabei hätte doch dessen Versuch, „die Anfragen des Marxismus im Interesse der Hungernden, Nackten, Unterprivilegierten und Vergessenen an die Christenheit zu vermitteln“, sowie der Versuch, „das Kirchenmodell einer freien, nichtprivilegierten Kirche in einer ehrlich und prononciert atheistisch sein wollenden Gesellschaft zu verwirklichen, höchste Aufmerksamkeit in der westlichen Christenheit verdient“ (217). In diesen Zusammenhang gehört auch Karl Barths Zurückweisung des Antikommunismus (235-248) und die stets not-wendige Funktion von Theologie als Ideologiekritik. Mit Entsetzen sieht Stöhr — wie Hromádka und Barth — die „Verwertbarkeit eines zum ideologischen Überbau der westlichen Gesellschaftsordnung entarteten Christentums“ (218).
Seine noch als „Traumprotokoll“ verfaßten „Konturen einer europäischen Schalom-Kirche“ zeigen Stöhr als einen, der das prophetische Amt der Kirche ernst nimmt und durchzubuchstabieren versucht. Dies gilt insbesondere für seine theologische Hauptaufgabe, ein neues „Grundverständnis des christlich-jüdischen Verhältnisses zu erarbeiten“. Gegen einen ,mainstream‘ der Theologiegeschichte, welche theoretisch wie auch in ihrer praktischen Auswirkung eine antijüdische war und — gewollt oder ungewollt — an den „Stricken des Todes“ mitwebte, wird für Martin Stöhr die Erschütterung über die Auswirkungen dieser Unheilsgeschichte erkenntnisleitend bei dem fortwährenden Versuch, sich dieser Geschichte rückhaltlos zu stellen. Ob im Kreis der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“, dessen Vorsitzender er in der Nachfolge von Helmut Gollwitzer viele Jahre war, ob als Vorsitzender des Koordinierungsrates der Christlich-Jüdischen Gesellschaften in Deutschland, als Präsident des „International Council of Christians and Jews“ oder als einer der Gründungsväter des „Studium in Israel“ — wie ein ,cantus firmus‘ zieht sich durch Stöhrs Arbeiten auf diesem Gebiet die Aufgabenstellung, ein theologisch verantwortetes Reden von Juden und Judentum zu konturieren. Nach dem Motto „pragma statt dogma“ wollen die hier zusammengetragenen Texte von Martin Stöhr Mut machen, auch selbst politische Verantwortung aus biblischer Grundhaltung heraus abzuleiten und wahrzunehmen. Mit Johannes Rau (Vorwort) ist zu wünschen, daß möglichst viele „die theologischen Argumente des unbequemen Rufers dankbar hören“.
Wieland Zademach
Jahgang 7/2000 Seite 223