Kritisch-exegtischer Kommentar über das Neue Testament. 3. Bd. Übersetzt und erklärt von Jacob Jervell. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 635 Seiten.
Höchst begrüßenswert ist die längst fällige Neubearbeitung dieses traditionsreichen Kommentarwerkes. Der große Wurf von Ernst Haenchen (1956-1977, 10.-16. Aufl.) war natürlich auch eingebunden in die damals dominante methodische Grundhaltung der Literarkritik und Formgeschichte, so daß nach heutigem Forschungskonsens eine Reihe von zentralen Fragestellungen und Problemfeldern zur Apg einer modifizierenden Darstellung bedürfen. Allein die historische Frage nach dem Geschichtswert der lukanischen Darstellung wird heute mit größerer, wenngleich nicht unkritischer, Zuversicht angegangen. Die Bedeutung einer sachgemäßen Kommentierung und Interpretation der Apg ist nach wie vor daran zu ermessen, daß die Apg die umfassendste „Quelle“ für ein adäquates Bild der Geschichte des Urchristentums darstellt. So bietet eine umfangreiche Einleitung eine erste Orientierung über die literarische Eigenheit und den literaturgeschichtlichen Ort dieses singulären Werkes im NT. Hier wird sogleich gegenüber dem von Haenchen lange so erfolgreich propagierten Actabild mit seinem starken Zug zur Konstituierung der Heidenkirche scharf Position bezogen. Dabei läßt sich der Einfluß einer veränderten ökumenischen Grundsituation ganz deutlich erkennen: 1) die jüdische Messianität der Christologie; 2) die Ekklesiologie arbeitet zentral mit „Volk“, nicht mit „Kirche“; 3) die Soteriologie ist ganz von biblischen Heilsverheißungen her gedacht; 4) die weiterhin gültige Tora ist nach wie vor „Zeichen der Identität des Gottesvolkes als Gottesvolk“; 5) umfangreiche und selbstverständliche Verwendung des jüdischen Idioms und Brauchtums sowie biblizistische Septuagintadiktion; 6) die Apg stellt die Geschichte des Paulus als „Apostel der Juden und der Welt, d. h. der Diaspora“ dar.
Eine der wichtigen historischen Konsequenzen dieses Ansatzes ist die Überzeugung, daß das Judenchristentum keineswegs schon in paulinischer Zeit gegenüber der Heidenkirche den kürzeren zog und schnell an Bedeutung verlor. Somit bietet dieser Kommentar auf weite Strecken in der Tat einen massiven Kontrapunkt und einen interpretatorischen Perspektivenwechsel dar, der gewiß nicht nur Zustimmung, sondern zugleich markanten Widerspruch hervorrufen wird. Doch sollte man zunächst sich die Einzelkommentierung erarbeiten, in der Jervell etwa die Paulusmission als nach wie vor an Israel gerichtet und darüber hinaus die Heidenwelt angesprochen sieht, mit der bezeichnenden Präzisierung: die ethnä/Heiden sind „Gottesfürchtige“, also jene Sympathisantenkreise, die in engem Kontakt mit der Synagoge stehen. Diese seien auch in der dreimalig formulierten Sendung/Berufung des Saulus/Paulus (Apg 9,15 parr.) gemeint. Die scharfe Kehrtwendung der Missionsstrategie „zu den Heiden“ nach den Schwierigkeiten mit Juden in Antiochien (13,44-52) ist ebenfalls kein Argument, an Israel vorbei eine Heidenkirche zu begründen, denn Paulus betreibt auch weiterhin Synagogenmission mit judenchristlicher Erfolgsgeschichte. Die weitere Fachdiskussion der einschlägigen Texte muß erweisen, wessen Argumentation dem Textsinn besser entspricht. In jedem Fall ist dieser Kommentar eine Herausforderung und Neubesinnung angesichts der bisherigen (oftmals klischeegebundenen) Grundauffassung zum Urchristentum in Apg. Die im ökumenischen Dialog Stehenden werden bei diesem neuen Werk einen (vielleicht allzu) engagierten Parteigänger unter den Exegeten finden.
Robert Oberforcher
Jahrgang 7/2000 Seite 299