Schulz-Jander Eva u. a. (Hg.)
Versuch einer Öffnung. euregio verlag, Kassel 1999. 335 Seiten.
Offenbar entmutigt durch zahlreiche Publikationen zu dem weitläufigen Themenfeld ,Erinnerung‘, sehen sich die Herausgeber zu der Frage veranlaßt: „Ist nicht schon längst alles gesagt?“ (14). In der Tat gesellt sich der Band einigen neueren Versuchen zu, durch eine Aufhebung von „Trennungen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Zugängen“ (15) größtmögliche Vielfalt sicherstellen zu wollen. Dieser Anspruch ist insbesondere dadurch eingelöst, daß zahlreiche Gedichte und — teilweise schon publizierte — Aufsätze zusätzlich zu den Referaten der Kasseler Veranstaltungsreihe von 1997/98 aufgenommen wurden, die Anlaß für die Edition dieses Bandes war. Ein Bündnis von Mitarbeiter/innen der Stadt Kassel, der Gesamthochschule, des Evangelischen Forums und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit hat insgesamt 26 Beiträge gesammelt, von denen sich die Mehrzahl mit der Schoa und ihren Spätfolgen befaßt: in der israelischen Gesellschaft (Benjamin Maoz), in der Pädagogik in Deutschland (Helmut Schreier, Jacqueline Giere, Gottfried Kößler, Petra Mumme), am Beispiel von Praktiken des Erinnerns, etwa in Buchenwald (Volkhard Knigge) oder beim Berliner Denkmalprojekt, das als Symptom der „Identifikation mit den Opfern und [der] Sakralisierung des Mordes“ (Silke Wenk) gelten kann. Wer bislang nicht mit der neueren Forschung zur Mnemotechnik bzw. Gedächtniskunst (Aleida Assmann), traditioneller (politologischer) Mythenforschung (Herfried Münkler), den Konfliktlinien im christlich-jüdischen Austausch (Christoph Münz) oder der Haltung der ev. Kirche zum Zweiten Weltkrieg in Berührung gekommen ist, erhält einen einführenden und fundierten Überblick.
Mit starker Orientierung an Johann Baptist Metz und Arthur Allen Cohen gelangt Christoph Münz zu der emphatischen Forderung, daß man jenseits der „Mode ..., Gemeinsamkeiten von Juden und Christen zu betonen“, als eine der zentralen „Lehren des Holocaust den Mut aufbringt und alle Konsequenzen zu tragen bereit ist, zunächst einmal die Differenz und Eigenständigkeit beider Traditionen wahrzunehmen“ (41). Ein solches Differenzierungsvermögen wird womöglich bereits dadurch blockiert, daß eine weniger befangene Generation nach 1989 ohnehin eine neue „vergangenheitspolitische Begründung der Demokratie in Deutschland“ (210) praktiziert. Im Gegensatz zu den begütigenden und aus christlicher Perspektive versöhnen wollenden Beiträgen der meisten (mindestens 50jährigen) Autoren ist es gerade die Polemik der deutschen Jüdin Esther Dischereit, die wissen will, warum „Martin Walsers Geschichte eigentlich steinalt ist“ (242), und so nochmals die Grundlagen des west- und ostdeutschen Verdrängungskonsenses enthüllt. „Ich steh da als Jude nur dumm in der Landschaft herum und habe zu verantworten, daß wer verantwortungslos wurde. Nein, das will ich natürlich ganz und gar nicht, daß wer seine Kinder verliert oder seine Frau oder die Frau ihren Mann — weswegen?“ (245). Gerade diese aggressiv-polemische Seite des christlich-jüdischen Gesprächs aber geht in der Fülle des Gutgemeinten und allzu Bekannten unter.
Am ehesten noch zeugen die literarischen Texte von Hilde Domin, Tuvia Rübner und Penny Yassour von der weiterhin existierenden Wut und Enttäuschung der Nach-Schoa-Generation. Doch gewinnen die Äußerungen von Opfer- wie Täterkindern kein eigenes Profil, wenn etwa die „persönliche(n) Erinnerungen“ eines Benjamin Maoz (296 ff.) nicht mit den didaktischen Konzepten der Gruppe „Konfrontationen“ (285-295) verbunden werden. Darüber hinaus beklagt Silke Wenk in einem bereits 1997 an anderer Stelle publizierten Aufsatz „symptomatische Fehlleistungen des Berliner Denkmalprojekts für die ermordeten Juden“ (310-317). So bildet der Band ein weiteres Dokument (west)deutscher Betroffenheitsrhetorik. Der angestrebte „Versuch einer Öffnung“ kann allenfalls für diejenigen produktive Energien entfalten, die sich bisher überhaupt noch nicht mit den Verwerfungen im ,deutsch-jüdischen Gespräch‘ beschäftigt haben. Für alle anderen ist in der Tat vieles „schon längst gesagt“ (14).
Andreas Disselnkötter
Jahrgang 7/2000 Seite 307