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Gertrud Luckner
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Prof. Dr. Karl Thieme, Germersheim-Mainz

Der Weg zur christlich-jüdischen Wiederbegegnung in der Mitte des 20. Jahrhunderts

Das folgende ist der nur ganz wenig überarbeitete Text eines Vortrags, der erstmals auf einer internationalen Herbsttagung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes am 14. November 1954 in Saarbrücken, danach noch in Germersheim und Mainz für die Katholischen Studentengemeinden und schließlich am 6 .März 1955 auf der Jahresversammlung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz in Zürich gehalten wurde. Im letztgenannten Fall war er durch Gedankengänge ergänzt, die sich in diesem Rundbrief unter der These VI B  (s.S.12 f.) näher ausgeführt finden und in Saarbrücken den Tagungsteilnehmern schon durch einen Beitrag im Programmheft der Tagung bekannt waren.

Das Thema, das hier heute behandelt werden soll, mit den Worten ,christlich-jüdische Wiederbegegnung in der Mitte des 20. Jahrhunderts‘ umschrieben, setzt in dem Worte ,Wiederbegegnung‘ zweierlei voraus. Es setzt voraus, daß schon eine Bezogenheit vorliegt, sonst könnte man nicht von Wiederbegegnung sprechen, und es setzt voraus, daß eine Getrenntheit eingetreten war, sonst könnte es sich nicht um eine Wiederbegegnung handeln, wozu ja von verschiedenen Plätzen Herkommende gehören. Es muß also erstens einmal von der Bezogenheit der beiden gesprochen werden, die da einander wiederbegegnen sollen: christlich-jüdische Wiederbegegnung oder Wiederbegegnung von Kirche und Synagoge. Diese Bezogenheit, die überhaupt erst ermöglicht, daß man von Wiederbegegnung spricht, ist zunächst, wenn man genau zusieht, die Identität. Bis ins 1. Jahrhundert nach Christus ist das Volk Israel eben dasselbe, was nach christlicher Auffassung die Ecclesia seit dem 1. Jahrhundert, seit dem Pfingstereignis ist; anders ausgedrückt: das, was beim Pfingstereignis in einen neuen Zustand seiner eigenen Geschichte eintritt, das war schon vorher als Gottesvolk da. Die ursprüngliche Kirche, die ursprüngliche Christenheit versteht sich selbst als die erneuerte Ecclesia, als das erneuerte Gottesvolk, als der Kern dieses alten Gottesvolkes; manchmal wird auch gesagt als EcclesioIa in Ecclesia, die kleine, winzige Kernkirche und wirkliche Kirche in der großen Kirche.

Nun ist das erste, was für unser Thema wichtig und entscheidend wichtig ist, sich einmal klar zu machen, daß schon diese alte Ecclesia, also die Kirche des Alten Bundes oder das Gottesvolk des Alten Bundes, die Eigenschaft mit dem Gottesvolk des Neuen Bundes teilt, gespalten zu sein, einem Schisma zu unterliegen. Die Spaltung des alten Gottesvolkes findet bereits nach dem Tode des Königs Salomo dadurch statt, daß zehn Stämme von den alt-israelitischen Stämmen sich zu einem selbständigen Reich Nordisrael unter Jerobeam (Jeroboam) zusammenschließen und gegen den Sohn Salomos Rehabeam (Roboam) rebellieren. Und schon damals, schon in diesem frühen Zustand im 10. Jahrhundert vor Christus, stellt sich die schicksalsschwere Frage, ob diese Spaltung des Gottesvolkes zwischen Nordisrael und Juda durch Gewalt beseitigt werden soll. Roboam will zunächst das Reich seines Vaters Salomo, seines Großvaters David, durch gewaltsame Wiederunterwerfung der Nordstämme, der Israelstämme, wiederherstellen. Es tritt aber ein Prophet auf und warnt davor, und dann wird dieses gottwidrige Vorhaben, mit Gewalt die Einheit des Gottesvolkes wieder herzustellen, glücklicherweise abgebrochen (1. Kön. 12, 21 ff.). Aber damit ist nun die Spaltung des Gottesvolkes, die Spaltung Israels in zwei Völker, das nordisraelitische Volk und das Volk um Jerusalem, um Juda, sozusagen verewigt, zu einer Dauerspaltung geworden, und seitdem frißt diese Spaltung in einer ähnlichen Weise am Alten Israel, wie etwa die Konfessionen-Spaltung seit dem 16. Jahrhundert am Neuen Gottesvolk der Kirche Christi frißt; und jeder einzelne, der in diesem Alten Gottesvolke auftritt, weiß, das kann man in den prophetischen Schriften des Alten Bundesbuches, des sogenannten Alten Testaments, oder des T‘nach jüdisch gesprochen, verfolgen, daß diese Spaltung nicht eine ewige Spaltung sein darf, daß diese Spaltung irgendwie beseitigt werden muß, aber eben nicht durch Gewalt beseitigt werden soll und darf, sondern durch ein Wunder Gottes.

Das Erbe des nordisraelitischen Reiches, des Reiches, das durch Jerobeam gegründet worden war, wird angetreten von den Samaritern oder Samaritanern, von den Leuten, die in den Landen des alten Nordisrael wohnen. Zum Teil sind diese Leute altangestammte, altansässige Bevölkerung, Nachfahren der Nordstämme, zum andern Teil sind aber die Nordstämme in die Verbannung geführt worden, nach dem Falle von Samaria zu Ende des 8. Jahrhunderts, und sind ersetzt worden durch irgendwelche von den Assyrern neu angesiedelten Leute aus Mesopotamien. Die haben ihre Götterdienste aus Babylonien mitgebracht, und darum sieht der rechtgläubige jerusalemitische Jude auf den Samariter oder Samaritaner hoch von oben herab, denn dieser Samaritaner behauptet zwar, er diene demselben Gott wie die Juden um Jerusalem, aber er vermischt den Glauben an diesen Gott mit allerhand mehr oder weniger heidnischem Götzendienst. Man muß auf diese Tatsachen der alttestamentarischen Geschichte Israels sehr deutlich aufmerksam machen, denn es ist zweifellos treffend in der Zeitschrift ,Verbum Caro‘ (I, 4; Nov. 1947). von ihrem Herausgeber, dem jetzigen Neuenburger Professor Jean Louis Leuba, festgestellt worden, daß in dieser Spaltung des Alten Gottesvolkes sich etwas von der Spaltung des Neuen Gottesvolkes vorgebildet hat, daß diese Spaltung, neutestamentlich gesprochen, ein Typus der Spaltung im Neuen Gottesvolke ist, und es ist nun sehr bemerkenswert, wie sich Jesus von Nazareth zu den Abgespaltenen, den Abgesplitterten, also eben den Samaritanern, verhält.

Auf der einen Seite ist Jesus von Nazareth der Mann, der in seiner Gemeinschaft, im jüdischen Volke, geradezu als der Samaritaner verschrien, beschimpft, angeklagt wird, wie im Johannes-Evangelium (8, 48) zu lesen steht. Er ist ein Samaritaner, das heißt: er ist ein Ketzer, ein Häretiker. Er selber aber hat nun im Gleichnis gerade den Samaritaner als den hingestellt, der die Forderung der Nächstenliebe ernst nimmt. Man vergißt es oft, daß das Gleichnis vom Samaritaner im Evangelium nach Lukas (10, 25 ff.) nicht isoliert steht, sondern daß es als eine Antwort auf die Frage nach dem wirklichen Nächsten folgt auf die Verkündigung des Hauptgebotes als das Gebot der unbedingten Gottes- und Nächstenliebe. „Wer ist denn mein Nächster?“ fragt der Schriftgelehrte, dem das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe als das Hauptgebot von Jesus angegeben worden ist, und Jesus antwortet mit dem Gleichnis vom ,barmherzigen Samariter‘, wie wir gewöhnlich sagen, und fragt am Schluß: „Wer war der Nächste dessen, der unter die Räuber gefallen ist?“ Und widerwillig offenbar muß der Schriftgelehrte antworten: „Der Barmherzigkeit an ihm getan hat“, der Samariter; er, der Fremdgläubige, der Andersstämmige, der Ketzer, war gerade der nicht nur, wie wir allenfalls die Frage verstehen würden, der als Nächster an ihm gehandelt hat, sondern der sogar der Nächste war. An dieser Stelle und an einer anderen Stelle, die ich gleich noch näher charakterisieren werde, wird also von Jesus der, der nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört, der zur abgetrennten und stammesmäßig verschiedenen Gemeinschaft gehört, gerade als der Nächste bezeichnet. Aber derselbe Jesus, der das, was ich eben charakterisierte, sagt, ist auch der Jesus des Johannes-Evangeliums in seinem 4. Kapitel, der zwar mit der Samariterin sich auf ein Gespräch einläßt und von ihr einen Trank erbittet, der aber auf ihre Frage nach irgendeinem theologischen Problem der Zeit, klar und unzweideutig antwortet: „Das Heil kommt von den Juden, Ihr wißt nicht, was Ihr anbetet, wir aber (hier identifiziert sich Jesus selbst mit den Juden) wir wissen, was wir anbeten.“

In diesen beiden Polen, in diesen beiden Haltungen, die einander nur scheinbar ausschließen und in Wirklichkeit ergänzen, ist die Haltung Jesu von Nazareth zum Anderen, zum Abgespaltenen, zum Irrgläubigen, unzweideutig ausgedrückt. Es ist ihm vollkommen klar: wir in Jerusalem, wir, die zu Jerusalem gehören, wir Juden sind die, die wissen; an wen sie glauben, die das Richtige, das Wahre, das Geltende von Gott wissen; aber unter Euch, den Samaritern, den Andern, den Irrgläubigen, finden wir erstaunlicherweise immer wieder Menschen, die nach dem Willen dieses Gottes mehr leben als die Leute, die sich auf diese berühmte Rechtgläubigkeit, dieses berühmte Wissen, an wen man glaubt, etwas zugute tun und sich durch dieses Wissen oder dieses Glauben gleichsam dispensiert wähnen vom Tun des Gotteswillens.

Das drückt sich besonders deutlich in dem vorher schon angezielten kleinen Bericht aus, den wir im Lukas-Evangelium (17, 11 ff.) finden, wo Jesus zehn Aussätzige von ihrem Aussatz gereinigt hat, die zehn Aussätzigen zunächst davongehen, um die entsprechenden Feststellungen über ihre Reinigung treffen zu lassen, einer von den Zehnen zurückkehrt und Gott lobpreist für das, was an ihm geschehen ist, und Jesus sagt: „Sind es nicht zehn gewesen, die gereinigt wurden, und nur einer gibt Gott die Ehre, dieser Fremdstämmige und erst recht Andersgläubige, dieser Samaritaner!“ Damit ist das erste gesagt, was mir auch für das Weitere wichtig zu sein scheint, daß nämlich eine Polarität, eine Doppelheit der Haltung gegenüber dem getrennten Bruder die Haltung des Evangeliums ist; einerseits das klare Wissen darum: das ist das Richtige, dieser ist der Rechtmäßige, hier ist die Legitimität, hier ist das offenbarte Wissen um Gott; und andererseits die ganz genau so klare Erkenntnis: mitten unter denen, die nicht das richtige Wissen haben, die nicht den richtigen Glauben haben, kann sich der einzelne finden, kann sich der Bruder finden, der nun gerade nach dem Willen eben dieses Gottes wirklich lebt und damit der Gerettete ist; und außerdem: die das richtige Wissen haben und den richtigen Glauben haben und im richtigen Stalle drin sind, können trotzdem gerade die existentiell Irrenden und Fehlenden sein. Damit ist für den Hellhörigen mindestens schon einmal eine wichtige Grundlage in der ursprünglichen Bezogenheit von Christen und Juden, von Rechtgläubigen und in irgendeinem Sinne Irrgläubigen im Gottesvolk oder in den Gottesvölkern, gelegt.

Das, was sich in dieser Form im Verhältnis Jesu von Nazareth zu den Samaritern oder Samaritanern findet, das taucht nun schon in einer gewissen Abwandlung bei den Aposteln Jesu auf, nämlich auch eine Polarität zwischen zwei einander scheinbar ausschließenden in Wirklichkeit ergänzenden Haltungen zu den getrennten Brüdern. Hier sind das nicht mehr in erster Linie die Samaritaner, die Leute aus Nordisrael, hier sind nun für die Apostel dieses Jesus von Nazareth die getrennten Brüder eben die Juden: Sie erscheinen den Aposteln, einem Paulus, einem Johannes, aber auch einem Petrus, als die Abtrünnigen, welche die große Gnadenstunde Gottes nicht erkannt haben, als die, die es nicht freudig aufnehmen, daß die Fülle der Völker, der Heiden, der Gojim, nun mit dem alten Gottesvolk versöhnt und geeint werden soll, sondern sich dagegen wehren. Und Paulus kann im ersten Thessalonicher-Brief (2, 15) ihnen gegenüber so weit gehen, daß er sagt, der Zorn Gottes sei bis zur Vollendung über jene Abtrünnigen, jene Widerspenstigen, jene Hartnäckigen ausgeschüttet worden, manche übersetzen das eis telos in diesem Falle ,bis zum Ende‘, bis zum absoluten Ende, ohne Remedur, ohne Möglichkeit einer Änderung. Ich halte diese Übersetzung, vor allem, wenn man sie ins Hebräische zurückübersetzt, für absolut falsch, es gibt andere Stellen, wo eis telos eindeutig in der griechischen Bibel so übersetzt werden muß, daß man es einfach wiedergibt als: bis zur Vollendung, bis zum höchsten Grade.1

Das ist die eine Seite des Affekts, den die Apostel, durchweg jüdische Menschen, gegenüber ihrem jüdischen Volke empfinden: In verzweifelter Liebe warnen sie dieses Volk vor etwas, was ihnen, den Aposteln Jesu, als eine verhängnisvolle Abtrünnigkeit, ein verhängnisvoller Abfall erscheint. Aber dieselben Apostel, derselbe Paulus stellt auf der anderen Seite fest, daß dasselbe jüdische Volk überhaupt nicht auf die Dauer verworfen werden kann und wird. Derselbe Paulus stellt in den berühmten Kapiteln 9 bis 11 seines Römerbriefes, wo er die ganze Frage des Volkes Israel aufrollt, ausdrücklich fest: Gott hat sein Volk nicht verstoßen und Gottes Heilsratschlüsse sind unbereubar, Gott kann seinem eigenen Wort nicht untreu werden; durch das er diesem Volk einen unauslöschlichen, einen für ewig gültigen Segen übergeben hat. Wenn dieses Volk einen Ratschluß Gottes zunächst nicht so versteht, wie Gott ihn verstanden wissen will, dann wird Gott in unermüdlicher Geduld warten, warten, warten, bis der Moment kommt, wo er Seinen Heilsratschluß im Einverständnis mit diesem Volk verwirklichen kann.

Wenn man immer wieder in unserer Zeit lesen kann, das Johannes-Evangelium bedeute den Anfang eines christlichen Antisemitismus, dann muß ich sagen, es gehört schon eine große Oberflächlichkeit und ein wirkliches Haften an dem isolierten Wortlaut von Einzelstellen dazu, um zu verkennen, daß gerade das Johannes-Evangelium, in dem ja auch das Wort ,das Heil kommt von den Juden‘ steht, das Evangelium ist, worin die glühende prophetische Leidenschaft für Israel genau in der gleichen Intensität, mit der gleichen Weißglut brennt wie in den Worten der alten Propheten des Alten Bundes.

Propheten und Apostel sind in ihrer Haltung zum eigenen Volk, aus dem sie stammen, grundsätzlich identisch. Es sind die, die in der leidenschaftlichen Liebe zu diesem ihrem Volk bis zur wütenden Anklage eben dieses Volkes gehen können. Das ist die Haltung Jesu, das ist die Haltung der Apostel und Propheten, und es ist im Nachklang noch die Haltung einiger kirchlicher Schriftsteller des ersten und allenfalls noch zweiten Jahrhunderts, des sogenannten Barnabas-Briefes, von dem wir nicht sicher wissen, von wem er wirklich geschrieben worden ist, und des Dialogs des Märtyrers Justin, eines Samaritaners, mit Trypho, vielleicht dem aus dem Talmud bekannten Rabbi Torphon; das ist eine Möglichkeit, die mindestens von der Forschung diskutiert wird. Aber schon bei Barnabas und bei Justin, stärker noch bei den späteren Kirchenschriftstellern, die sich mit der Frage der beiden Gottesvölker abgegeben haben, von denen die berühmtesten in den nächsten Jahrhunderten sind: Tertullian im späteren zweiten und beginnenden dritten Jahrhundert und Augustin im vierten, fünften Jahrhundert, schon bei ihnen ist an die Stelle dieses Dazugehörens und aus der Zugehörigkeit heraus im prophetischen Zorne Kritik üben, Vorwürfe laut werden lassen, mehr oder minder unvermerkt ein Abstand, ein Nicht-mehr-Dazugehören, ein Nicht-mehr-Internreden, sondern Von-außen-Hereinreden getreten, eine Getrenntheit.

Um diese Getrenntheit richtig zu würdigen, auch kritisch richtig zu würdigen, muß ich doch einen Augenblick auf die Bezogenheit an einer bestimmten Stelle zurückblicken. Unter den Schriftstellern, die das, was wir heute das Neue Testament nennen, geschaffen haben, ist ein einziger, von dem man mit einer gewissen Sicherheit sagen kann, daß er nicht jüdischer Abstammung war, das ist der Verfasser des Evangeliums nach Lukas und der Apostelgeschichte. Dieser Lukas ist nun unter den Verfassern sämtlicher Bücher des Neuen Testaments mit Abstand der, der die freundlichsten Worte über die Juden findet. Warum? Ich glaube, weil er der ist, der Paulus wirklich verstanden hat. Es gibt heute allerdings eine Theorie, wonach Lukas den Paulus besonders schlecht verstanden habe (in ganz anderer Hinsicht, nicht in dieser Hinsicht). Ich persönlich glaube, daß Lukas den Paulus nicht nur in dieser von mir jetzt behandelten, sondern in jeder Hinsicht besonders gut verstanden hat, aber das kann ich jetzt nicht näher ausführen; ich bemerke es nur für die, die vielleicht diese Literatur kennen aus den. Zeitschriften, wo sie jetzt im wesentlichen noch zu finden ist. Ich glaube also, daß Lukas das, was Paulus in Römer 9 bis 11 ausgeführt hat über den unauslöschlichen Vorrang der Juden im Reich Gottes, besonders gut verstanden hat, und es gibt ein paar kleine Indizien dafür, von denen her man das behaupten kann.

Es gibt die bekannte Geschichte von dem neuen Wein und den alten Schläuchen. Bei Matthäus und Markus wird diese Geschichte nur als solche erzählt: „Neuen Wein füllt man nicht in alte Schläuche“, und die Kommentatoren sagen dazu: das bezieht sich auf die Notwendigkeit, eine neue Gemeinschaft des Evangeliums zu schaffen, weil man es in den alten Schlauch der synagogalen Organisation nicht einfüllen kann. Bei Lukas — und nur bei Lukas — ist diese Geschichte vom neuen Wein und den alten Schläuchen durch ein ganz kurzes Wörtchen ergänzt, es steht nämlich dabei, daß die Leute sagten: „Der alte Wein schmeckt besser.“ Und dieses kleine Wörtchen an dieser Stelle ist ein Wort des Verständnisses für die getrennten älteren Brüder, die nicht so leicht ihren guten alten Wein der Thora, d. h: ihres talmudischen Verständnisses, aufgeben wollen, sondern sie sagen, was jeder sagt, daß alter Wein im allgemeinen besser schmeckt als neuer Wein, und ausgerechnet der Heidenchrist, der Proselyt aus Antiochia, Lukas, hat diesen ,mildernden Umstand‘, vom neutestamentlichen Standpunkt aus gesehen, für die getrennten Brüder in Abraham, für die Juden, auch aus der Verkündigung Jesu des Überlieferns wert befunden, während die prophetisch zürnenden Juden Matthäus und Markus diesen kleinen Satz wegfallen lassen. Das ist eines von mehreren typischen Symptomen dafür, daß Lukas bei Paulus wirklich gelernt und gemerkt hat, wie er eben nicht das Recht hat, sich die Worte prophetischer Kritik der jüdischen Apostel Jesu an ihren jüdischen Mitbrüdern seinerseits als geborener Nichtjude unkritisch zu eigen zu machen.

Aber leider, das, was Lukas von Paulus persönlich noch gelernt hatte, das haben im Drang des Eifers und der Polemik und der Auseinandersetzung mit den intellektuell sehr häufig überlegenen jüdischen Gesprächspartnern die späteren Kirchenschriftsteller oder Kirchenväter wie Tertullian und Augustin und vor allem leider auch Johannes Chrysostomus nicht gelernt. Wer sich im einzelnen für ihre Kontroversliteratur in einer neuen Prüfung interessiert, der muß das ausgezeichnete Werk des Straßburger Sachverständigen Marcel Simon, Verus Israel (Paris 1948) lesen, das Buch, in dem gezeigt wird, daß die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Synagoge nicht, wie man häufig meinte, bereits im ersten Jahrhundert im Grunde ihr Ende gefunden hat und man dann völlig getrennt lebte; sondern, daß bis ins vierte, bis ins fünfte Jahrhundert hinein ein ununterbrochenes Hin und Her zwischen Kirche und Synagoge in dem Sinne stattfand, daß Leute, die schon für die Kirche gewonnen waren, nachher für die Synagoge gewonnen wurden und umgekehrt, daß ein ganz starker jüdischer Proselytismus bis ins vierte, fünfte Jahrhundert stattfand, daß die Auseinandersetzung den Personen nach eine lebendige Auseinandersetzung war, obwohl die Dokumente von der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts an im Grunde Verständnislosigkeit füreinander dokumentieren.

Auch in dieser Zeit ist es immerhin so, daß sich gleichsam als Unterströmung in der christlichen Kirche, etwa bei einem Augustin, das Wissen um die andere Seite, um die Unverwerflichkeit Israels, aufrecht erhielt. Ein Zeugnis dafür ist vor allem ein gewöhnlich hierzu nicht herangezogenes Werk, die ,quaestiones in Evangelium‘ von Augustin. Die ,quaestiones in Lucam‘ von Augustin enthält eine Auslegung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn, worin, wie ich glaube richtig, der ältere Bruder des Verlorenen Sohnes als der Typus des Juden gekennzeichnet wird und worin die grandiosen Worte des Vaters zum älteren Bruder: „Mein Sohn, du bist alle Zeit bei mir, und alles was mein ist, ist dein“, richtig dahin verstanden werden, daß das sozusagen die Ehrenurkunde für das Alte Israel ist. Es ist sowieso mit Gott, um Gott, bei Gott. Und Augustin, der auf der anderen Seite in seiner Judenpredigt manches Wort findet, das wir heute nicht sehr gern lesen, wie es in dem Buch von Blumenkranz über Augustins Judenpredigt (Basel 1946) festgehalten ist, derselbe Augustin vermag auf der anderen Seite diesem älteren Bruder im Gleichnis die Ehre zu geben, daß er sagt, das beziehe sich auf diejenigen Israeliten, nicht nur der Vergangenheit, sondern ein für allemal, die dem Gesetze Gottes treu geblieben seien. Er weiß noch, daß es so etwas gibt. Aber in einem gewissen Sinne ist er nun leider für einige Jahrhunderte der letzte, der das weiß. Es gibt zwar in den folgenden Jahrhunderten noch Ausnahmen, wie Gregor den Großen oder dann mit einem großen Sprung Ignatius von Loyola in der Kirchengesdiichte, aber es sind leider nur noch Ausnahmen.

In dem sauberen historischen Werk von Browe über das Papsttum und die Judenmission im Mittelalter, das 1942 in Rom erschien, findet sich eine geradezu erschütternde Fülle von Beispielen dafür, daß nicht mehr der getrennte Bruder, sondern eben nur noch der Gegner, oder deutlicher, der böse Feind von allzu vielen im Juden gesehn wurde. Auch Worte wie das Wort Papst Innozenz III., man solle die Juden nicht aus Rom vertreiben, „denn sie erinnern uns an Gottes Gesetz“; auch solche Worte stehen als Charakterisierung sehr vereinzelt, und im allgemeinen sind zwei Motive bestimmend: Auf seiten der kirchlichen Würdenträger sehr häufig das Motiv der Angst, der Sorge, einer manchmal respektablen Hirtensorge, warum? Weil bis hinauf zu führenden Männern Christen von der jüdischen Predigt zum Judentum bekehrt wurden.

Es hat einen Kleriker am Hof Ludwigs des Frommen gegeben, der durch die jüdische Predigt zum jüdischen Praktizieren vom christlichen wegbekehrt wurde, und er war kein Einzelfall, sondern einer von nicht ganz wenigen, und in den mittelalterlichen Städten war es so, daß das brave christliche Volk zu den Rabbinern in die ausgezeichneten Predigten rannte, solange es keine entsprechenden christlichen Predigten zu hören bekam; denn die Herren Gelehrten saßen in den Klöstern auf dem Land, und in den Städten gab es eher einen predigtfähigen Rabbiner, ehe es noch einen predigtfähigen Leutpriester gab, und es hatte die entsprechenden Konsequenzen; und jene Angst für die Schäflein, die einem abtrünnig gemacht werden, ist das eine, das ältere Feindschafts-Motiv. Das zweite, das spätere und noch gefährlichere Motiv war dann einfach der schlichte und schlimme heidnische Haß. Man kann es, glaube ich, auf die Formel bringen: Stets öfter hat heidnischer Haß mißbraucht, was prophetischer Zorn in der Heiligen Schrift an Worten brüderlicher Warnung und Mahnung gegenüber dem eigenen Volk geprägt hatte. Nicht zu vergessen ist hierbei die Rolle, die irgendwie rachgierige Renegaten, Abtrünnige, gespielt haben, die für ihre eigene selbstverständlicherweise schwierige Situation einen Auspuff brauchten und zu verbitterten Anklägern des Volkes wurden, dem sie entstammten.

Schließlich muß man in diesem Zusammenhang noch erwähnen, daß enttäuschter Missionseifer oft umgeschlagen ist in sich selbst täuschende Haßliebe. Hier muß nun auch im Sinne von Historikern, die sich mit dieser Frage besonders befaßt haben, wie dem Herausgeber der Zeitschrift ,Evangelische Theologie‘, Professor Ernst Wolf in Göttingen, Martin Luther erwähnt werden, der in seiner Frühzeit um die Juden geworben hat in der Hoffnung, daß ihre Umkehr durch seine Verkündigung des Evangeliums ermöglicht werde, und der in seiner Spätzeit in die Judenpolemik des Spätmittelalters kraß zurückgefallen ist, weil er davon enttäuscht war, daß seine Verkündigung die große Umkehr nicht hervorgerufen hatte, wie er sie erhoffte, wie er sie in seinen jüngeren Jahren herausgefordert hatte.

Die Vorwände für solchen heidnischen Haß und für solche enttäuschte Haßliebe wurden selbstverständlich von einem Volke, das in eine solche Ausnahmesituation hineingenötigt worden war, relativ leicht geliefert. Es ist absolut selbstverständlich, daß ein Volk, das man Schritt für Schritt zurückgedrängt hatte, bis es schließlich auf das den Christen verbotene Zinsgeschäft fast völlig beschränkt war, im Mittelalter etwa vom 11., 12. Jahrhundert an, daß ein solches Volk sich Feindschaften genug zuziehen mußte, so daß man jederzeit das nötige Quantum an Einzelfällen vorweisen konnte, von denen dann zu behaupten war: Hier zeigt sich der bösartige Charakter dieses Volkes. Und an diesem Volke ist nichts leichter zu verstehen, als daß nun auch in ihm dieser Gegensatz, diese Feindschaft gegen die Leute sich verfestigt und fortvererbt hatte, die es von seiner angestammten Religionsübung wegführen, wegnötigen wollten. Auf beiden Seiten war nun eben die Feindschaft durch Jahrhunderte und Jahrhunderte verfestigt und erblich geworden.

Diese Feindschaft hat dann gegen Ende des Mittelalters über die Einzelverfolgungen, die wahrlich schon schlimm genug waren seit der Kreuzzugszeit, seit dem Ende des 11. Jahrhunderts, zu den großen Katastrophen, wie vor allem der Austreibung aus Spanien 1492 und der im darauffolgenden Jahrhundert erfolgenden inquisitorischen Verfolgung der sogenannten Marranen, der neu getauften Familien, geführt. Und in diesem Volke ist dann die messianische Sehnsucht, die es durch all diese Zeiten mitgetragen hatte, zu jenen leidenschaftlichen Explosionen gelangt, die im 17. Jahrhundert ihren Gipfel in der Bewegung des Sabbatai Zwi erreichten, worin man hoffte, in dem Jahre mit der geheimnisvollen Jahreszahl 1666, nun endlich sei der Erwartete gekommen in der Person jenes jungen Juden aus Smyrna, der den Islam überwinden sollte, der der Messias sein sollte, und der dann statt dessen zum Islam übertrat. In dem außerordentlichen Werke von Gerhard Scholem, Major Trends of Jewish Mysticism, Les grand courants de la mystiqu‘e juive, das vor einigen Jahren erschienen ist, wurde uns die bisher tiefste und überzeugendste Analyse der Bewegung dieses Sabbatianismus, der Gefolgschaft des Sabbatai, geboten, die vor allem zeigt, wie vom Sabbatianismus die Bewegung weiterführt bis in die europäische Aufklärung hinein; eine Bewegung, die sagt: es kann mit dem einfachen Befolgen des alten Gesetzes nicht genug sein, Gott muß endlich handeln, er muß seinem Volke endlich die so lang ersehnte Erlösung bringen, und wenn diese Erlösung eben im Sabbatai, in der Person dieses einzelnen, noch nicht dagewesen war, dann mußte vielleicht das, was Sabbatai als einzelner getan hatte, der zum Islam übergetreten war und sozusagen noch die Sphäre des Fremden durch einen scheinbaren Übertritt erobern zu wollen schien, dann mußte das in einem gewissen Sinne von der Gemeinschaft als ganzer nachgeahmt werden. Man mußte endlich sich mit den Völkern ringsum verschmelzen, damit sie die letzte Wahrheit des eigenen, des jüdischen Glaubens durch diese Verschmelzung hindurch in sich einsehen möchten, die Wahrheit des einen Gottes und der einen einmütigen Menschheit, die in der Liebe zu Gott und dem Nächsten geeinigt wäre.

In derselben Zeit zwischen dem Ende des 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts, wo diese Bewegung unter der Oberfläche der synagogalen Gemeinschaft sich ständig ausbreitete, ist die sogenannte Aufklärungsbewegung in der gleichzeitigen Christenheit in Gang gekommen und zu weitgehendem Erfolge gelangt. Auch sie hoffte, daß jenseits der streitenden Orthodoxien, jenseits der Exile, in die sich die Christenheit zu Ghettogruppen aufgespalten hatte, eine neue Einheit, eine Menschheitseinheit, auf dieser Erde sich verwirklichen werde. Alle diese Gruppen hofften, sozusagen, das, was ihnen überkommen war, das überlieferte Gesetz, das überlieferte Dogma wie Schalen hinter sich lassen zu können und trotz diesen Schalen, unter Wegsprengen dieser Schalen, den Kern, das Eigentliche, sagen wir einfach: die Nächstenliebe (im positiven Falle) zu finden.

Aber freilich, mit der Kritik der Schalen ging oft eine Art der Skepsis, eine Art der Zersetzung zusammen, wie sie sich vielleicht am knappsten in der Formel niedergeschlagen hat, die der Marquis d‘Argens verwendete, als er an Friedrich II. von Preußen eine Petition richtete, Mendelssohn eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren. Er brauchte dafür die Formel: Un philosophe, mauvais catholique, supplie un philosophe, mauvais protestant, de donner le privilège à un philosophe, mauvais juif. Il y a trop de philosophie dans tout ceci, pour que la raison ne soit pas du côte de la demande. Ja, diese Sorte von Verständigung der ‚schlechten Katholiken‘, der ,schlechten Juden‘ und der ,schlechten Protestanten‘ auf der Basis der Philosophie, auf der Basis irgendeines sogenannten gemein-menschheitlichen oder gemein-europäischen Erbes, ich glaube, es ist am Ende fast dieselbe Art der Verständigung, die in ihrer niedrigsten Form gepflegt wurde, als man sie nicht mehr auf der Basis eines gemeinsamen humanitären Erbes oder europäischen Erbes; sondern auf der Basis eines sogenannten rassischen Erbes suchte. Es ist ein Minimalismus, der immer tiefer sinkt, weil er sich der Höhe der Ansprüche, die für jeden gestellt sind, in verschiedener Weise durch eine bequeme Einigung unterhalb des geforderten Niveaus, zu entziehen versucht.

Diese Versuchung ist zweifellos in der Zeit nach der Aufklärung auch für die jüdischen Menschen besonders stark gewesen. Es waren zwar nicht die jüdischen Menschen, weder die, welche die Aufklärung unter den europäischen Völkern zuerst geschaffen haben, noch die, welche die Revolution gemacht haben, aber es waren viele jüdische Menschen (zum Unterschied von anderen, die warnten), die geradezu mit Begeisterung, mit einer fast messianischen oder chiliastischen Begeisterung, diese neue Phase in der Geschichte ihrer Gastvölker aufnahmen und dachten: Jetzt, mit dem Liberalismus, mit der Preisgabe der alten dogmatischen Bindungen, kommt endlich die Zeit der großen Einheit, ja (von ihnen aus gesehen) kommt die Zeit, wo im Grunde alles, das von den Christen selber abgeschüttelt wird, was sie bisher von uns trennte, ihre Spezialdogmen, und wo wir eben darum abschütteln können, was uns von ihnen trennte, unsere Gesetzesbefolgung, wo wir uns mit ihnen einig finden können.

Es zeigte sich sehr bald auf allen Seiten, daß diese Erwartung in dieser Form Illusion war. Hier fand nicht eine christlich-jüdische Begegnung statt, sondern ein Verzicht auf die spezifische Aufgabe, sowohl unter den Christen wie unter den Juden, eine Verschmelzung nach unten im Indifferentismus, in der Gleichgültigkeit, in einer zu billigen Form eben des angeblich Allgemeinmenschlichen, unter Verzicht auf das Besondere, was diesem Alten Volke Israel und was diesem Neuen Gottesvolke aufgegeben und mitgegeben war. Es gehört zu den erschütternden Wirklichkeiten wirklicher Geschichte der Menschen, daß es schwerste Katastrophen sein mußten, durch die wohl allerseits dieser Weg als Irrweg erkennbar geworden ist. Zuerst war es die räumlich noch begrenzte Katastrophe des Dreyfus-Prozesses im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, die zeigte: der Weg der Assimilation, der Weg des Aufgehens des jüdischen Volkes unter den Gastvölkern, ist nicht gangbar. Jener Theodor Herzl, der dann später das berühmte Buch vom Judenstaat geschrieben und den ersten zionistischen Kongreß nach Basel einberufen hat, jener selbe Theodor Herzl hatte ein paar Jahre früher den ernsthaften Plan gehabt, durch einen Kollektivübertritt der Judenheit zum christlichen Glauben unter gemeinsamer Taufe im Wiener Stephans-Dom die Judenfrage zu lösen. Und erst als er merkte, daß niemals eine Chance bestehe, einen wirklichen Frieden für die jüdischen Menschen durch einen Weg solcher Resignation zu finden, hat er dann gleichsam eine Wendung um 180 Grad vollzogen und den Judenstaat zu verkünden angefangen; und dann mußte für ihn erst noch die große Überraschung erfolgen, daß er merkte, wie das, was bei ihm sozusagen eine taktisch-politische Ausflucht gewesen war, auf eine elementare religiöse Sehnsucht im gläubig gebliebenen Ostjudentum auftraf, und daß dieses Volk nun allerdings nicht einen Judenstaat irgendwo in Südamerika oder Madagaskar oder in Britisch-Uganda wollte, sondern daß es das alte Israel wollte und nichts anderes.

Damit war die erste Gefahr, die Gefahr eines individuellen Untergehens der jüdischen Menschen unter den anderen Völkern, beseitigt. Nun freilich drohte (und droht in einem gewissen Sinne, bis zu einem gewissen Grad noch heute) die zweite Gefahr: eine Art kollektiver Assimilation, daß nämlich das jüdische Volk als „Volk wie andere auch“ unter den Völkern des vorderen Orients neben Ägyptern und Libanesen und Syrern und Transjordaniern ein stilles bescheidenes mehr oder weniger friedliches oder auch einmal kriegerisches Dasein führen würde, ohne die einzigartige Mission von da aus erfüllen zu können, zu der es nach seinem eigenen Glauben auserlesen ist: Es ist nun ganz zweifellos eine Tatsache, daß nach der ersten Verfolgung, der Dreyfus-Verfolgung, die weit größere, weit gefährlichere, weit tödlichere Verfolgung durch Hitler im sogenannten Dritten Reich aus der Idee, dem Programm und der Keimzelle die ausgewachsene Wirklichkeit des Staates Israel geschaffen hat.

Es ist kein Zweifel, daß dies eine notwendige Entwicklung war, eine Entwicklung, die unzählige neue positive Möglichkeiten für dieses Volk eröffnet; es ist aber auch kein Zweifel, daß, wenn die ganze Geschichte dieses Volkes zu nichts anderem dagewesen wäre als sozusagen ein Sonderexperiment der Weltgeschichte zur Beantwortung der Frage darzustellen: wie kann ein Volk durch fast 2 000 Jahre ohne Staat existieren und dann doch wieder einen Staat bekommen und in diesem Staate leben wie andere Völker auch?, das wäre ein interessantes Kuriosum der Geschichte für die Feuilletonspalte der Zeitung, aber es wäre nichts, was dem ungeheuren Leiden und dem ungeheuren Phänomen dieses Volkes auch nur entfernt gerecht würde.

Es dürfte wohl etwas mehr mit der Existenz dieses Volkes gemeint sein, als daß es nach so langer Unterbrechung nun tatsächlich in wesentlichen seiner Teile wieder in das Land der Vorväter heimkehrte, so phantastisch und einzigartig auch das schon ist. Darum glaube ich, daß neben der Bedeutung, die die Ereignisse, deren Zeugen wir in den letzten 20 Jahren geworden sind, für die Staatwerdung eines Teils des Volkes Israel als solchen gehabt haben, doch noch wichtiger die Bedeutung ist, die eben dieselben Ereignisse der letzten 20 Jahre für die Wiederbegegnung gehabt haben, von der heute hier die Rede sein soll.

Diese Wiederbegegnung begann gewissermaßen mit zweierlei Erstaunen, einem jüdischen und einem christlichen. Also zunächst mit einem jüdischen Erstaunen über einen gewissen christlichen Widerstand gegen den Totalitarismus der Jahre seit 1933. Es hatte in der Tagesliteratur der Zeit vor 1933 als eine gewisse Selbstverständlichkeit gegolten, daß die christlichen Kirchen zu den sogenannten konservativen oder gar reaktionären Mächten in der Politik gehörten, und daß der Konservatismus eine Art natürliche Neigung zum autoritären Staat und zur gewaltsamen Unterdrückung seiner Opponenten habe. Wenn man um 1930/31/32 einen Durchschnittseuropäer befragte, was er von der Haltung der bewußten Christenheit zu einem kommenden, ich sage hier absichtlich autoritären, nicht totalitären Staat erwarte, dann würde dieser Durchschnittseuropäer mit einigen guten Gründen gesagt haben: Die Kirchen werden ja von diesen autoritären Staaten anerkannt werden, benützt werden, protegiert werden — wie von Mussolini — und eben darum mit diesem autoritären Staat zusammengehen. Nun kam über die Mitte Europas dieser autoritäre Staat mit einem so durchsichtigen Mäntelchen von positivem Christentum, daß schon im ersten Jahre des autoritären Staates christlicher Widerstand gegen den totalitären Staat, der hinter diesem autoritären Staat rasch auftauchte, sich regte; Widerstand sowohl etwa in der bekennenden Kirche des Protestantismus in deutschen Landen wie etwa in Gestalt der berühmten Adventspredigten des Kardinals Faulhaber im Advent 1933. Und das, was im Jahre 1933 noch die Demonstration einer edlen, charaktervollen anerkennenswerten aber sozusagen ,erschwinglichen‘ Haltung gewesen war, nicht ohne jedes Risiko, aber doch mit einer gewissen relativen Sicherung, das wurde in den darauffolgenden Jahren im wachsenden Maße eine Sache von Tod und Leben. Nach Faulhaber und Niemöller von 1933 gab es dann den Prälaten Lichtenberg in Berlin, der um seiner Fürbitte für die Juden willen sterben mußte, oder den evangelischen Pfarrer Schneider, der für seinen Widerstand gegen die Mißhandlung jüdischer Menschen im Konzentrationslager gestorben ist. Und diese einzelnen, deren Namen wir kennen als Opfer dieser Zeit, waren nur jene einzelnen, von denen wir‘s wissen, hinter denen eine ganze Reihe (vorsichtig gesagt) von anderen standen, die einigen Widerstand wagten, wagten gerade auch für ihre jüdischen Mitmenschen.

Neben diesem jüdischen Erstaunen über christlichen Widerstand, gegen das, was geschah, gab es ein christliches Erstaunen über das, was sich an Reserven jüdischer Religiösität in der Zeit der äußersten Bedrängnis offenbarte. Eine Probe davon haben alle die von Ihnen, die heute vormittag die Vorlesung aus den Tagebuchnotizen von Anne Frank gehört haben, mitbekommen und können sie, wenn man das Ganze liest, noch etwas gründlicher erhalten. Weitere Beispiele waren etwa jene osteuropäischen Juden, die im Konzentrationslager, wie man seinerzeit im ,Neuen Tagebuch‘ lesen konnte, im Jahre 1938 oder 1939, für ihre Verfolger gebetet und die damit gezeigt haben, daß jene Frömmigkeit, wie sie im Neuen Testament als die echt jüdische des Neuen Bundes verlangt wird unter Berufung auf den Alten Bund, auch als echt jüdische im Judentum in der Kontinuität des Alten Bundes existiert hat und existiert. Die Reserven, die sich auch unter sogenannten Ungläubigen, solchen, die nicht synagogal praktiziert hatten während ihres Lebens, jeweils im Angesicht des Todes offenbarten, waren für alle die christlichen Menschen, die so etwas eigentlich nicht erwartet hatten, ein ähnlicher Gegenstand des Staunens wie für die jüdischen Menschen, die es nicht erwartet hatten, der vorher erwähnte, wenigstens teilweise vorhandene christliche Widerstand.

Nach dieser ersten Phase der beiderseitigen angenehmen Überraschung folgte eine zweite, wo man zunächst eine gewisse Enttäuschung aneinander erlebte. Auf der jüdischen Seite, glaube ich, kann, wenn man die Dinge von der Schweiz aus beobachtet hat, der Moment, wo diese Enttäuschung sich in etwa auskristallisiert, genau angegeben werden: es war Weihnachten 1942, als in der Schweiz Karl Barth und einige seiner Freunde einen sogenannten ,Weihnachtsbrief an unsere Juden‘ veröffentlichten, in dem sie in menschlich durchaus gutgemeinter und feiner, liebenswürdiger Form etwa sagten: „Liebe jüdische Freunde, es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, daß wir gegen die Verfolgung und zu eurer Unterstützung getan haben, was sich uns als tunlich und möglich herausstellte. Wir glauben, es unseren Überzeugungen schuldig zu sein, daß wir nun auch einmal euch sagen: alles, was an Not und Schicksal jetzt über euch gekommen ist und einstmals gerade auch durch ,christliche‘ Völker über euch kam, darf euch im Widerstand gegen Christus, und so gegen Gottes Heilsplan nicht versteifen.“

Damals ist dann natürlich durchaus verständlicherweise von jüdischer Seite, etwa vom Basler Rabbiner Dr. Weil, sehr energisch widersprochen worden, und daraufhin setzte dann also auch die christliche Enttäuschung ein, von der man sagen könnte: es war die Enttäuschung über die jüdische Renaissance, die seit 1933 stattgefunden hat; darüber, daß die Verfolgung nicht etwa im Endresultat eine Art ,Zu Kreuze kriechen‘ bewirkt hatte, sondern umgekehrt, daß letztlich eine Verstärkung des jüdischen Selbstbewußtseins herausgekommen war.

Aber jenseits dieser beiderseitigen Enttäuschung kam nun die eigentliche Begegnung. Diese Begegnung scheint mir am deutlichsten zu werden, wenn man darauf zu sprechen kommt, daß ein neues Begreifenkönnen des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Christen und Juden in der Christenheit Platz zu greifen begann, und das läßt sich auf eine ganz einfache Formel bringen: Bis zur Zeit der Verfolgung der Jahre 1933 bis 1945 glaubte derjenige bewußte Christ dem Juden am meisten gerecht zu werden und am meisten als liebender Bruder zu begegnen, der sich zur sogenannten Judenmission bekannte, also etwa sagte: Mir selber ist der Jude Jesus von Nazareth zu meinem Retter, Erlöser und König geworden; und weil er es ist; möchte ich, daß er vor allem auch von den Menschen seines Volkes endlich als ihr Retter erkannt werde, dann sind sie ja gerettet.

Wenn man es so formuliert, wie ich es jetzt formuliert habe, ist es selbstverständlich, daß, wer so sagen konnte, es sehr gut meinte; aber als dann die geschilderte Enttäuschung kam, da mußten sich die Christen, die diese Enttäuschung erlebten, wenn es ihnen mit dieser brüderlichen Liebe ernst war, fragen: haben wir vielleicht hier etwas mißverstanden und etwas falsch angepackt, daß wir auf diese Reaktion stoßen? Und dann begann die Entdeckung, daß das Problem zwischen Christenheit und jüdischen Menschen eben nicht das Problem der Mission, sondern daß es ein ganz ähnliches Problem ist wie das zwischen den getrennten Teilen der Christenheit, und daß es ein ähnliches Problem sogar ist wie das alte Problem der getrennten Teile des Alten Gottesvolkes selbst, also Nordisraels und Judas bzw. in der neutestamentlichen Zeit der Samaritaner oder Samariter und der Juden, das Problem der Spaltungen im Gottesvolk und der richtigen Art ihrer Überwindung. Das eine, was damit gewonnen wurde, war, daß man nun aus vollem Herzen die Haltung Jesu selbst zu den Samaritern oder Samaritanern übernehmen konnte im Verhältnis zu den Juden, d. h. sehen, daß manchmal unter denen, von denen man im Glauben gewiß war, daß sie in ihren Sachaussagen irrten, dennoch die Leute sein konnten, die dem Gotteswillen in der Wirklichkeit, in ihrer Existenz vielleicht viel, viel mehr gerecht würden als die meisten eigenen Glaubensgenossen. Das war die eine Seite der Sache.

Die andere Seite der Sache war, daß man entdeckte, zu entdecken begann, wie unter Umständen diese Leute eine echte Frage an einen hätten, ein echtes Anliegen. Das ist es, was nach dem prophetischen Auftakt des Briefwechsels zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock im ersten Weltkrieg und des Gesprächs zwischen Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt 1933 seit 1948 in immer breiterem Ausmaß im Gange ist: In den Tagungen des Deutschen Evangelischen Dienstes an Israel über ,Kirche und Judentum‘, den Arbeiten des Niederländischen Reformierten Rats für Kirche und Israel sowie seines katholischen Gegenstücks, in den tiefbohrenden und breit in die Katechese und Predigt hinauswirkenden Studien der Pariser katholischen ,Cahiers Sioniens‘ wie auch der ,Revue de la pensee juive‘; nicht zuletzt wohl auch in dem Ringen um materielle, und moralische Wiedergutmachung seitens des Kreises um den ,Freiburger Rundbrief‘. Mehr ist nicht zu sagen, als daß vor allen denen, die an alledem beteiligt sind, die unermeßlich große Aufgabe steht, aus dem furchtbarsten Verbrechen, das dem jüdischen Volke je unter den Völkern geschehen ist, den Weg zu der sich wie von fern abzeichnenden fruchtbarsten Begegnung zwischen diesem Volke und allen denen zu bahnen, die sich aus den Völkern zur Umkehr, zum Glaubensgehorsam gegenüber dem Gott Abrahams rufen ließen durch Jesus von Nazareth, Jehoschua Nosri.

1 Näher von mir ausgeführt anläßlich der meist ähnlich mißverstandenen Wendung Barn. 4, 7 in: ,Kirche und Synagoge. Die ersten nachbiblischen Zeugnisse ihres Gegensatzes im Offenbarungsverständnis: Der Barnabasbrief und der Dialog Justins d. M.‘ (Often 1945) und gegen Widerspruch erhärtet in dem dieses Buch ergänzenden, z. T. berichtigenden offenen Briefwechsel mit Joh. Oesterreicher: ,Um Kirche und Synagoge im Barnabasbrief‘ in der Zeitschr. f. kath. Theologie 1954 (74, 1).


Fr_Ru VIII. Folge 1955/56. Oktober 1955. Nummer 29/32 Seite 3 ff.


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