Ein Resumé seines vorjährigen Hattenheimer Referats (vgl. Nr. 12/15, S. 32) hat Prof. Wolf in Nr. 9 der Zeltschrift ‚Bekennende Kirche’ vom 15.09.1951 aus gegebenem Anlass publiziert. Mit seinem Einverständnis freuen wir uns, daraus das Kernstück übernehmen zu dürfen.
I.
Das Judenproblem ist für Luther primär ein religionskritisches Problem. Durch sein Verständnis des „Wortes Gottes“ war ihm vor allem die Judenfragegestellt, und zwar
a) im Sinn des reformatorischen Formalprinzips der Alleingültigkeit der Bibel;
b) im Sinn des Verständnisses der Bibel als Gesetz und Evangelium und
c) im Licht des exegetischen Problems von Röm 9–11, das heißt im Licht der Frage nach dem jüdischen Endschicksal. Dazu einige knappe Erläuterungen:
ad a)
Die rabbinische Tradition vergewaltigt nach Luthers Meinung das Wort Gottes ganz ebenso wie diejenige des Papsttums. In beiden Vergewaltigungen des Textes zeige sich „Verstockung“; bei den Juden schon seit 1500 Jahren. Durch sinnändernde Punktation greifen sie in den Text ein. Vor allem streitet Luther mit ihnen um die Auslegung der messianischen Weissagungen. Jede Auslegung, die nicht nach der „Analogie des Glaubens“ (Röm 12,7) Christus als Sohn Gottes in der Schrift findet, ist Ungehorsam gegen die Schrift. Also auch die rabbinische Exegese, trotz ihrer partiellen philologischen Überlegenheit. Dieser Ungehorsam ist das Fundament der den Juden vorgeworfenen „Lügen“. Die Anwendung des reinen Vernunftprinzips in göttlichen Dingen führe zu einem Verständnis der Bibel nur als Gesetz, nicht auch als Evangelium.
ad b)
„Judaei habent opera“, das heißt sie hoffen durch ihre Gesetzeserfüllung das Heil zu erlangen. In seiner religionskritischen Sicht versteht Luther das Judentum in Parallele zu dem Papsttum und den Schwärmern als Typus einer Gesetzlichkeitsreligion. Die Gesetzlichkeit ist auch der Grund für die von ihm bekämpfte jüdische These, dass um der Sünde Israels willen das Eintreten der messianischen Verheißungen um 1500 Jahre verzögert sei und dass daher der Messias nicht in Jesus anzuerkennen sei. Bestimmte Bücher der Bibel gelten Luther von da aus als spezifisch „jüdisch“ (Sapientia Salomonis, Esther, 2 Makkabäer, im Neuen Testament der Jakobusbrief).–
Dieselbe Gesetzlichkeit ist für Luther auch der Grund des antichristlichen Hochmuts der Juden. Dieser stützt sich auf die Abstammung von Abraham, auf die Beschneidung, auf den Besitz des mosaischen Gesetzes, des Hl. Landes, Jerusalems und des Tempels. Hochmut ist es, diese sonst wertvollen Privilegien vor Gott geltend zu machen.– Diesen Erwähltheitshochmut, der als religiöser Hochmut für alle nichtchristlichen Religionen charakteristisch sei, widerspreche aber die elende Lage der Juden in der Gegenwart. Ihre völlige Verknechtung, äußerlich an Menschen, religiös an menschliche Gesetze, ist nach Luthers Urteil die Wirkung des Zornes Gottes, die Folge der Ablehnung Christi und die buchstäbliche Erfüllung des Rufes: „Sein Blut komme über uns“ (Mt 27,25).
Mit diesen traditionellen Erklärungen für die elende Lage der Juden verbindet Luther ferner als weitere Folge des Erwähltheitshochmuts den sittlichen Tiefstand der Juden. Er verdeutlicht ihn durch die Aufnahme und Weitergabe der üblichen judenfeindlichen Gerüchte und Verleumdungen des späten Mittelalters. Früher hatte Luther diese Gerüchte als Infamie abgelehnt. Seit 1540 will er sie allem Anschein nach doch glauben. Sie fassen sich für ihn zusammen in den verschiedenen Formen jüdischer bzw. angeblich jüdischer Schmähungen Christi und in den verschiedenen christenfeindlichen Äußerungen und ähnliches der Juden; so vor allem auch im jüdischen Gebet um Vernichtung der Gojim. Aber auch Wucher und Heimtücke der jüdischen Ärzte werden genannt. Dieser „Christenhass“ der Juden erscheint Luther so unvorstellbar, dass er ihn sich nur metaphysisch erklären kann: aus der Feindschaft des Teufels gegen Gott.
Daraus zieht Luther Folgerungen: den Juden ist mit „scharfer“ Barmherzigkeit zu begegnen. Die Christen sollen nicht den Zorn Gottes von den Juden abwehren wollen. Sie sollen sich auch nicht durch Duldung der Juden fremder Sünde teilhaftig machen. Die Ablehnung der einen, der christlichen Wahrheit durch die Juden ist für das staatliche Gemeinwesen nicht tragbar. Es ist Pflicht der Obrigkeit, gegen das öffentliche jüdische Antichristentum einzuschreiten. Das letzte Mittel ist die Landesverweisung, aber auch Zinsverbot und Zwang zur Arbeit werden genannt. Wir können zusammenfassend sagen: Luthers Stellung gegen die Juden ist motiviert durch seinen Kampf um die Ehre Christi; aber im Rahmen der Idee des corpus christianum, der geschlossen christlichen abendländischen Welt, muss sich diese religiös motivierte Stellungnahme zugleich auch notwendig politisch auswirken. Darin ist Luther Kind seiner Zeit.
Gottes Zorn überschattet so für ihn die Missionsaufgabe an den Juden; aber die Hoffnung hört nicht auf, dass Gott dennoch Juden zum Glauben ihrer Väter und damit auch an Christus bekehren werde.
ad c)
Röm 11,25 f. („Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei und also das ganze Israel selig werde“) ist für Luther eine „dunkle“ Aussage. Luther teilt die traditionelle Auffassung dieser Stelle nicht, dass alle Juden bekehrt werden sollen. Zwar ist Israel nicht gänzlich verworfen, aber Gott wird nur einzelne, wenige berufen (so schon 1514 in einem Brief an Spalatin, Febr. 1514, WABr 1,7). Im übrigen war Röm 9–11 für Luther wie für die Reformatoren überhaupt ein wichtiger Aussagenzusammenhang für die Rechtfertigungslehre, nicht für die Frage nach Israel.
Luther wendet sich bei der Frage der Bekehrung Israels scharf gegen die katholische Propaganda unter den Juden und gegen eine Zwangschristianisierung (vgl. den Brief an Bernhard). Auch das Papsttum hat Christus nicht richtig erkannt. So hofft Luther, dass seine eigene, neue evangelische Christuserkenntnis dazu führen kann, dass sich die Juden nunmehr von Herzen auf dem Weg über den Glauben ihrer Väter zu Jesus als dem ihnen verheißenen Messias bekehren werden.
Daher fordert Luther die Christen auf, sich den Juden mit besonderer Liebe und Achtung zuzuwenden, mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen und für sie zu beten (Fürbitte für die Juden in „Eine kurze Form der zehn Gebote, des Glaubens, des Vaterunsers“. 1510, WA 7, 204–229.) Darum schreibt Luther an Josel: „denn ich um des gekreuzigten Juden willen, den mir niemand nehmen soll, euch Juden allen gerne das Beste tun wollte, ausgenommen, dass ihr meiner Gunst zu eurer Verstockung brauchen solltet ...“ Die Schrift, „Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“, ist eine einzige Aufforderung zur freundlichen Gewinnung der Juden. Aber auch alle Kampfschriften, die Luther 20 Jahre später schreibt, und die Vermahnung wider die Juden in seiner letzten Predigt enden in der Hoffnung, dass sich der Rest Israels bekehren werde.
Luthers persönliches Verhalten zu einzelnen Juden, die ihm begegneten, ist zumeist freundlich und liebevoll. Die Wirkung seiner antisemitischen Streitschriften war relativ gering. In Hessen stärker sogar als in Sachsen selbst, fast gar nicht in Brandenburg und in Mansfeld. Luther hat das bedauert, aber es muss festgestellt werden, dass die faktische Wirkung im allgemeinen ausgeblieben ist. Es mag sein, dass der Widerspruch in Luthers Urteil selbst, dass das von ihm proklamierte doppelte Verhalten gegen die Juden daran mitbeteiligt sind. Auf der einen Seite hoffte er auf Bekehrung (namentlich der Rabbiner) und will die Bekehrten als hochgeachtete Glieder in die Kirche aufgenommen wissen, ohne Trennung von Judenchristen und Heidenchristen. Für ihn ist die Kirche eben die Fortsetzung des erwählten Volkes, der Kirche des Alten Bundes. Auf der anderen Seite kann er in schärfster Weise den Schutz gegen einen aggressiven Hochmut und Unglauben verlangen und hier zu den schrecklichen Forderungen der Zerstörung der Synagogen, der Häuser, zur Landesverweisung kommen.
Wir müssen diesen Widerspruch einfach konstatieren. Ich halte den Versuch, ihn unter dem Titel der Barmherzigkeit, nämlich der „milden“ im Bekehrungsfall und der „scharfen“ gegenüber der Unbekehrbaren, wie unter einem gemeinsamen Nenner zu söhnen, für eine zweifelhafte Apologetik lutherischer Theologen. Man muss sich heute aber darüber klar werden, dass man Luthers Doppelhaltung nicht einfach wiederholen kann. Und man braucht sie auch nicht zu wiederholen, weil für ihn entscheidende Vorstellungen und Voraussetzungen fortgefallen sind oder fortfallen oder fortfallen sollten.
1. Fortgefallen ist die Idee des corpus christianum, der geschlossenen Christlichkeit des Abendlandes. Die Idee der Toleranz fordert bei aller Auseinandersetzung um die Wahrheit, auch um die religiöse Wahrheit die gegenseitige Achtung und die bürgerliche Gleichberechtigung.
2. Fortgefallen ist im Prinzip auch die antijüdische Greuelpropaganda des Mittelalters. Aber sie ist durch eine neuzeitliche antisemitische Propaganda in nur zum Teil anderen Formen (z. B. die „Protokolle der Weisen von Zion“) ersetzt worden. Es wird angestrengter Arbeit bedürfen, diese Propaganda auszurotten, und es ist eine dringende Pflicht der Christenheit, das in unaufhörlicher Arbeit zu versuchen.
3. Uns ist heute das Geheimnis von Israel und der Kirche anders aufgegangen als auch Luther (obwohl er etwas davon ahnte). Die für ihn so wichtige Trennung zwischen dem biblischen Israel und dem nachbiblischen Judentum sehen wir anders, weil wir gerade als Christen die Verheißungen des Segens über Israel immer wieder ernst zu nehmen haben und weil wir zugleich um das Geheimnis der Kirche als Kirche Christi aus Juden und Heiden – nicht aus „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ im Glauben wissen und es mit der Tat bekennen sollen.
Gerade die Einheit der Kirche, die wir gegen alle Zerrissenheit der Kirchen glauben und bekennen, ruht auf dem Geheimnis der mit ihrer Erfüllung in Christus weiterhin geltenden Verheißung Gottes über Israel. Diese Einheit würde geleugnet, wenn man die Kirche als Summe aus rassisch verschiedenen Christen oder auch nur als Addition von „Heidenchristen“ und „Judenchristen“ begreifen wollte, wie man das im deutschen Protestantismus in der Nazizeit bei den sog. „Deutschen Christen“ theoretisch zu begründen suchte (Kittel, Vogelsang). Dafür hat man allerdings Luther nicht mit Recht in Anspruch genommen. Diese Konsequenzen hat er nicht gezogen. Für ihn gilt Gal 3,28: „Hier ist kein Jude oder Grieche ... denn ihr seid allzumal EINER in Christo Jesu.“ „Die Glieder der Kirche sind untereinander Brüder“ (vgl. Gutachten der Theologischen Fakultät Marburg zum „Arierparagraphen“, 1934).
III.
In der entschlossenen Abwehr der Einführung des „Arierparagraphen“ in die Kirche des deutschen Protestantismus im Dritten Reich, in dieser von der erfolgte der erste Schritt zur Überwindung einer„antisemitischen" Lösung der Judenfrage. Es war freilich nur ein erster Schritt, der noch nicht entschlossen über die Grenzen der Kirche hinaus führte. Nur zögernd begann man da und dort die Juden als diejenigen zu sehen, denen gegenüber dem Antisemitismus eine besondere Solidarität der Christen zugewendet sein muss. Von daher wird deutlich, was an Luthers Stellungnahme zum Judentum in gewisser Weise gültig bleibt: nämlich formell dies, dass die Auseinandersetzung mit der Judenfrage immer zugleich auch in eine Selbstkritik der Kirche eingeordnet ist. Wenn man noch heute in kirchlichen Kreisen imstande ist, den Juden die „Schuld“ am Kreuzestod Jesu als ihre eigentliche Schuld aufzuladen, dann gibt man zu erkennen, dass man nicht weiß, dass es hier nur eine Schuld gibt, die Schuld des Unglaubens.
Das ist eine Schuld, deren sich die Christenheit auch immer wieder und so auch heute schuldig gemacht hat und schuldig macht. Den Juden gegenüber besteht sie für die Kirche darin, dass die Kirche nicht glaubt, dass Christus nicht gegen, sondern für die Juden ist. Dass die Kirche nicht sehen will, wie es Gottes Treue ist, die das Judentum unter seiner Verheißung bis heute erhält. Dass sie nicht erkennen will, was das jüdische Urteil über Jesus im Vollzug des Heilsratsschlusses Gottes bedeutet. Um der Kirche willen wird Israel bewahrt. Das Wort der Gnade und der Vergebung Gottes ist das letzte Urteil über Israel und seine Schuld, das die Kirche anzuerkennen hat. Sie hat das zu glauben und danach zu handeln, und nicht Richter zu sein über Israel.
Wenn man den Kampf des Nationalsozialismus gegen die Juden nur als Symptom eines übergreifenden Kampfes gegen die Kirche wertet, dann beginnt man das Leiden der Juden zu relativieren. Sollte nicht vielmehr das Entsetzliche, das ihnen unter den Augen der Christen, die vielfach nur zuschauend daneben standen oder gar in verschiedener Weise mitmachten, widerfahren ist, als ein Leiden für die Kirche angesehen werden müssen? Durch die Judenverfolgung ist immer wieder die Kirche zur Buße gerufen. Gottes Langmut gibt seiner ungläubigen Kirche noch Zeit dadurch, dass er die Rettung Israels als Ziel der Hoffnung und als Gegenstand des Glaubens weiterhin offen hält.
FrRu V. Folge 1952/1953, Nr. 17–18, August 1952, S. 18–20