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Alwin Meyer

Vergiss Deinen Namen nicht

Die Kinder von Auschwitz

Ich wusste lange nicht, wie ich beginnen soll. Denn „Vergiss Deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“ ist ein Buch, vor dem sich jeder Leser fürchten muss. Eine Geschichte von unaussprechlichem Grauen, die weit über das hinausgeht, was ertragbar ist. Eine wahre Geschichte, die zu unserer deutschen Identität gehört. Es sind die Biografien der Kinder und Jugendlichen, die von den Nazis in die Konzentrationslager und in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt werden.

Diese Kinder lieben − wie fast alle Kinder − Märchen, lieben es ausgelassen zu toben, spielen gern Fußball und treffen sich mit Freunden, fahren gern Fahrrad, essen gern Cremewaffeln, kuscheln gern mit Vater und Mutter, sind das Glück ihrer Eltern und − eigentlich schon tot.

Wer sind sie, diese Kinder? Es sind Kinder wie Heinz Kounio, Janek Mandelbaum, wie der neunjährige Junge Gabor Hirsch, wie Daša Friedowa, wie die achtjährige Dagmar Fantlová, wie die Jungen Jürgen Löwenstein und Wolfgang Wermuth, wie die Zwillinge Jiri und Zdenek Steiner, wie Eduard Kornfeld, Ferenc und Otto Klein, Yehuda Bacon, Robert Büchler, Herbert Adler … und wie zigtausend andere Kinder. Es sind die überwiegend jüdischen Kinder aus Deutschland und den besetzten Ländern, aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, aus Griechenland und anderen Ländern Europas, die während der verbrecherischen Nazibarbarei von Auschwitz verschlungen werden. Von den schätzungsweise 232 000 Säuglingen und Kindern, die ins Vernichtungslager verschleppt worden sind, haben lediglich 416 Kinder diese Hölle überlebt.

Es sind die Erinnerungen von den überlebenden Kindern, von ihren Angehörigen und von denjenigen Menschen, die sie kannten oder kennen, die Meyer in seinem Buch zu Wort kommen lässt. Die erzählen, wie Normalität, das beschauliche Leben und die unbeschwerten Kindheitstage von heute auf morgen zerstört werden. Die erzählen, wie die Nazis sie ihren Familien und ihrem Zuhause entreißen. Meyer ergänzt diese Erzählungen mit soziokulturellen Hintergründen, die die gesellschaftliche Einbindung der Juden bis hin zur Ausgrenzung aufzeigen, und mit Bildmaterialien.

Bereits nach der Machtübernahme Adolf Hitlers beginnt für die jüdische Bevölkerung der Weg in den Tod. Anfänglich sind es Drangsalierungen, die immer stärkeren Aggressionen weichen. Mit der Pogromnacht beginnt die freie Jagd auf die Juden in Deutschland, ab dem 1. September 1939 über die Grenzen hinaus in den nach und nach überfallenen und besetzten Ländern. Für die Kinder eine bittere Erfahrung. Jetzt sind sie plötzlich, wie Wolfgang Wermuth erfahren muss, „Jude Itzig“, müssen sich selbst wie Jehuda Bacon als „Stinkjude“ und „Israel Krummholz“ betiteln, dürfen plötzlich nicht mehr zur Schule gehen, haben keine Freunde mehr, müssen plötzlich jüdisch sein und den gelben Stern tragen. Sie werden von Soldaten mit vorgehaltener Waffe bedroht und mit Worten wie „schneller, du jüdische Sau“ aus dem Haus getrieben, werden, noch nicht mal neun Jahre alt, zur Zwangsarbeit verschleppt. Sie müssen die Trennung von den Großeltern, Eltern und Geschwistern ertragen, sehen ihre Väter erstmalig weinen.

Das Los dieser Kinder heißt „Vernichtungslager Auschwitz“. Sie müssen sich daran gewöhnen, in Waggons eingepfercht  zu sein. So dicht aneinander, dass kaum Luft zum Atmen bleibt. Sie müssen sich daran gewöhnen, Hitze und Kälte ausgesetzt zu sein. Sie müssen sich an Hunger und Durst gewöhnen. Sie müssen sich an den Geruch von Fäkalien und Leichen gewöhnen. An der Rampe in Auschwitz werden sie ihren Müttern entrissen. Sie sehen, wie Säuglinge unter dem Gelächter der SS-Männer zerfetzt werden. Sie sehen, wie die kleinen Körper gegen Wände und Bäume geschleudert werden, wie das Blut spritzt, und sie  hören das verzweifelte Schreien der Mütter.

In Auschwitz dürfen die einen noch etwas weiterleben und die anderen gehen sofort ins Gas. Für die Kinder ein einziger Schrecken. „Die Hölle ist ein Dreck dagegen“, sagt Eduard. Und diese Hölle ist für die Kinder und Jugendlichen erst der Anfang. Gewaltsam werden ihnen die Körperhaare ausgerissen. Sie werden kochend heißen Duschen ausgesetzt, die zu schlimmen Verbrennungen führen. Abspritzungen mit eisigem Wasser und stundenlanges Stehen bei Minusgraden, barfuß, in notdürftiger, zerlumpter Kleidung führen zu schmerzhaften Erfrierungen, teilweise bis zu den Knien. Die Kleidung ist verdreckt und verlaust. Bei jedem Appell erneut die Angst, selektiert zu werden. Selektion bedeutet Tod.

Die Kinder spüren den Tod nicht nur. Sie sehen und riechen ihn. Diese meterhohen Leichenberge, die Verwesung, den Gestank von verbranntem Fleisch, die Tag und Nacht qualmenden Schornsteine. Für kleinste oder erfundene Vergehen wird auf die Gefangenen, egal welchen Alters, eingeprügelt. Gummiknüppel und Peitschen sausen auf die ausgehungerten dünnen Kinderkörper, reißen tiefe Wunden, die nicht versorgt werden, die eitern und voller Ungeziefer sind. Hunde werden auf sie gehetzt. Selbst Kleinkinder haben schlimme Bisswunden, ausgerenkten Arme und Beine, von Schlägen dick geschwollene Gesichter, vom Hunger aufgedunsene Bäuche. Sie hausen in überbelegten Baracken inmitten von Schmutz und Fäkalien, vom Hunger geschwächt und anfällig für Seuchen. Ihre Körper übersät mit eitriger Entzündungen.

In ihrem Bewusstsein verankert sich der Tod. Ob Heinz oder Lydia und all die anderen. Hier sind sie nur noch eine wertlose, bürokratisch erfasste Todesnummer, eintätowiert in ihren Unterarm. Bei den Säuglingen, wo die Ärmchen zu klein sind, muss ein Unterschenkel oder der Po für den bürokratischen Mordapparat herhalten. Will man in Auschwitz länger leben, muss man verwertbar sein. Wie Gabor Hirsch, als Depothäftling aufbewahrt für die Zwangsarbeit. Ärzte, eigentlich zum Heilen verpflichtet, selektiert willkürlich. Wer zu klein ist, wer zu schwach aussieht, wer gerade blindwütig auserwählt wird, geht ins Gas. Die Kleinsten schmeißen die Mörder in die überfüllten Gaskammern, in die dicht gedrängte Menge, hinein. Kinder, die überleben, sich mühsam aus dem Leichenhaufen befreien, werden erschossen oder ihre Köpfe brutal zerschlagen. Sie werden in Massen − wie Abfall − auf Lastwagen verladen, zur Verbrennungsgrube gefahren und in das offene Feuer gekippt. Kinder, die schon laufen können, springen voller Angst von den Lastwagen und rennen vergeblich um ihr Leben.

Was bleibt, ist der Tod. Erschlagen, erschossen oder lebendig verbrannt. Hier gibt es vor dem Morden kein Versteck. Hier gibt es kein Empfinden, kein Mitleid mit den weinenden Kindern. Denn hier herrscht nur Unmenschlichkeit, archaische Barbarei eines sogenannten Kulturvolks, Quälerei, Brutalität. Überall Erhängte, Totgespritzte, Erschossene. Selbst der Erschießung ihrer eigenen Eltern müssen die Kinder beiwohnen. Sie werfen sich auf den leblosen Körper und schreien „Mutti, Mutti“. Nur Angst, Angst und wieder Angst. Nur Wimmern und Weinen. Mama, Mama Schreie in allen Sprachen. Das ist der Alltag, das ist das Großwerden der Kinder von Auschwitz. Hier gibt es kein Spielen. Hier spielt nur einer, der Tod.

Hier holt Dr. Mengele sich die Kinder für seine abartigen und perfiden Experimente. Hier näht er Kinder einfach zusammen. Kinder, die dann Tag und Nacht vor Schmerzen brüllen. Hier dürfen Kinder nicht leben. Hier wird ein Neugeborenes gleich ertränkt, zerschlagen und wie Müll auf einen Haufen Toter geschmissen. Hier werden Schwangeren die Kinder aus dem Leib geschnitten, jüdische Schwangere gleich ins Gas geschickt. Kinder werden von Ratten lebendig gefressen.

Als Mitte 1944 das Gas knapp wird, geht die Tötungsmaschinerie mit weniger Gift weiter, die halb-vergasten Überlebenden enden in den Verbrennungsöfen. Heinz kann die Quälerei nicht mehr ertragen. Er mag nicht mehr leben. Nur der Gedanke an seine Familie gibt ihm Kraft. Für Eduard hat der Tag keine Bedeutung mehr. Der Abend wird zum lebensrettenden Anker. Denn am Abend hat er wieder eine Selektion überstanden. Am Abend gibt es für ihn einen neuen Morgen. An diesem Schreckensort ist Gott für den einen tot und für den anderen überlebenswichtig.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee beginnen die Todesmärsche und der Transport in andere Konzentrationslager. Wer nicht bereits unterwegs verhungert, verdurstet oder erfroren ist, wer vor Schwäche nicht weiter konnte und nicht schon zu Tode geprügelt oder erschossen worden ist, wird in einem neuen Lager weiter gequält oder getötet. „Sie weinten wie Babys“ als sie schließlich befreit wurden.

Aber sie sind keine Babys. Sie sind Kinder, die sich wie Greise fühlen. „Sie mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.“ Ein fast unmöglicher Lernprozess, denn die Wunden der Geretteten sind so tief, dass sie nicht mehr heilen. Für die Kinder von Auschwitz ist auch nach Auschwitz „der Schmerz […] immer da. Vor dem Frühstück, am Abend, in der Nacht […]. Jeden Tag, jede Stunde […]. Die Erinnerung an die ermordete Mutter, den Vater, die Schwester, den Bruder.“ Gabor Hirsch sehnt sich nach der Berührung seiner Mutter. Eduard ist Tag und Nacht von seiner toten Familie begleitet.

Die Kinder von Auschwitz schleppen diese schwere, grauenvolle Last ihr Leben lang mit sich. Die namenlosen Kinder, die oft ein Sprachgewirr sprechen, wissen nicht, wer sie sind, auch wenn die Eltern ihnen bei der Trennung verzweifelt zugerufen haben, „Vergiss Deinen Namen nicht“. Sie versuchen, sich zu erinnern, suchen verzweifelt nach Überlebenden, schleppen vielfältige Ängste mit sich. Die panische Angst vor Hunden, die Angst verlassen zu werden, die Angst, nicht genug Essen zu bekommen, die Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird, die Angst vor Ärzten, die Angst vorm Einschlafen, denn nachts, da kommt Auschwitz. Sie trauen den Menschen nicht. Sie sind unfähig zur Freude, sind traurig, ziehen sich in sich zurück. Manche können oder wollen nicht sprechen, reagieren aggressiv. Sie können Anweisungen nicht ertragen, sich nicht in Warteschlangen einreihen, lassen sich ungern die Haare schneiden. Sie leiden unter der Vorstellung, ihre Kleidung sei verlaust. Sie verstecken Essensreste und bunkern selbst verdorbene Lebensmittel. Sie können nicht normal gehen, denn sie haben ja nur marschieren gelernt. Sie können nicht spielen. Sie verschränken Füße und Hände, so wie sie es zum Schutz vor der Kälte gelernt haben. Sie verschweigen das erlebte Grauen und tauschen sich nur mit Gleichgesinnten aus. „Die Wunden der Schoa sind und bleiben vorhanden und lassen sich nicht wirklich heilen“, sagt Otto Klein.

Unfassbares spielt sich auch in der Nachkriegszeit ab. Die schwer traumatisierten Kinder von Auschwitz irren in Europa verwirrt umher. Einzig die Vertreter der Jugend-Alijah beginnen nach ihnen zu suchen, um sie in den neu gegründeten Staat Israel zu bringen. In ihrer früheren Heimat sind die Überlebenden oftmals von den vielen Mitläufern und Antisemiten nicht willkommen. Sie erinnern zu sehr an geraubtes Eigentum und Mord. In der Sowjetunion werden die Malträtierten gar der Kollaboration mit Hitler-Deutschland verdächtigt, in die Gulags deportiert oder gleich ermordet. Was für eine erneute Barbarei! Tausende Geschundenen suchen Zuflucht in Palästina. Doch die ehemaligen Befreier, die britische Mandatsmacht, internieren sie auf Zypern.

Im Land der Täter wird über Jahrzehnte eine erbärmliche Entschädigungsdebatte geführt. Die ehemaligen Nazi-Ärzte treten als Gutachter auf und reduzieren die komplexen Traumata bis ins Banale. Der angesetzte Entschädigungsbetrag im Bundesentschädigungsgesetz vom Juni 1956 von 5 DM für einen Tag Auschwitz, den viele Antragsteller noch nicht mal bekommen haben, verdeutlicht diesen schamlosen Vorgang. Die Täter wollen sich nicht an die begangenen Verbrechen erinnern, schweigen Jahrzehntelang, wollen von den Verbrechen nichts mehr hören. Die Auschwitzprozesse sind ein Indikator für das menschliche Versagen einer Gesellschaft. Die Opfer hingegen müssen sich dieser grauenvollen Erinnerung stellen, in ihren Albträumen, in ihrem Alltag.

Yehuda Bacon hat es auf sich genommen, als Zeuge im Auschwitzprozess auszusagen. Ein Prozess, der für ihn doppelt schwer zu ertragbar war. Da ist einmal die schwere Last der grausamen Erinnerung und zum anderen das fehlende Unrechtsbewusstsein der Täter. Wie kann man unter solchen Umständen weiterleben? Bacon hat die grausamen Szenen immer wieder gemalt, in seinen Bildern das Unaussprechbare ausgesprochen. In Auschwitz hat es nichts Menschliches, hat es nur den Tod gegeben. Daher hat er über Jahre seine Bilder mit seiner entmenschten Häftlingsnummer unterzeichnet. Erst langsam ist er wieder ins Leben zurückgekehrt, und zeichnet seitdem seine Bilder mit seinem richtigen Namen. Doch welches ist der richtige Name? Welche sind die richtigen Eltern? Mütter haben auch nach Auschwitz verzweifelt geschrieen, „gebt mir meine Kinder wieder“. In der Nachkriegszeit klammern sie sich an jede kleinste Hoffnung, dass gerade ihr Kind irgendwo überlebt hat. Und manche haben sich nach Jahrzehnten tatsächlich wieder gefunden. Doch sie waren sich fremd geworden − und haben sich ein zweites Mal verloren.

Dieses Buch „Vergiss Deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“ ist ein Trauerzug der Erinnerung. Ein Trauerzug, der die Kinder von Auschwitz und die vielen Opfer ins kulturelle Gedächtnis ruft und ihnen ihren Namen zurückgibt. Sich hierauf einzulassen und den Trauerzug zu begleiten, ist sehr schwer. Unvorstellbare, entmenschlichte Szenen bingen den Lesern die Qualen der Opfer nahe. Qualen, die zu ertragen, Erzählung, die vom Leser auszuhalten sind, Erinnerungen an das, wozu der Mensch in seiner Hemmungslosigkeit fähig ist.

Sich an die Seite der Opfer zu stellen, heißt, sie wieder ins Leben zu führen, ihnen die Zuwendung und den Trost zu geben, die die Verbrecher ihnen, als sie Kinder waren, verweigert haben. Es heißt auch, sich an die Seite ihrer Kinder und Enkelkinder zu stellen, denn sie sind es, die diese schwere Erblast weiter tragen. Die überlebenden Auschwitzkinder waren als „Erwachsene wie Kinder, die keine Ahnung vom Leben hatten“.

Wir, die wir von den Verbrechen an den Kindern eine Ahnung haben, sollten in unserer gesellschaftlichen humanitären Verantwortung nicht wie Kinder handeln. Ein kritisches Bewusstsein und eine moralische Positionierung ist zwingend nötig, insbesondere vor dem Hintergrund des sich vermehrt zu Wort meldenden europäischen sowie des tief verwurzelten arabischen Antisemitismus, der immer stärker nach Europa drängt. Gerade pro-palästinensische Kundgebungen wie 2014 in Berlin, die zu Anti-Israel-Demos mutierten und Parolen wie „Nazimörder Israel!“, „Stopp Deinen Holocaust Israel“, „Stop Doing what Hitler did to you“ „Juden ins Gas“ und „Kindermörder Israel“ riefen, verhöhnen und banalisieren die Schoa aufs Schlimmste. Diese Vergleiche sind unerträglich, denn als die Kinder von Auschwitz befreit wurden, „[…] sahen wie Skelette aus, hatten Bisswunden von Hunden, ihre Körper waren von Geschwüren bedeckt, ihre Augen von Eiter verklebt, lange Zeit lief das Essen durch sie wie durch ein Sieb hindurch, sie hatten Tuberkulose, Lungen- und Hirnhautentzündungen […]“. Das Leid, das ihnen angetan wurde, hatte nur ein einzige Ziel: sie zu vernichten.

© Soraya Levin, Wolfenbüttel



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