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Dr. Pinchas Rosenblüth

Die Bibel als Grundlage jüdischer Politik

Teil 1 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel".  (Teil 2: "Die Auferstehung der hebräischen Sprache; : Die Bibel als Grundlage jüdischer Politik; Teil 3: Neuhebräisch?)

Dass es im Staate Israel an denen nicht fehlt, die sein Volk an Gottes Offenbarung als Maßstab auch der Politik erinnern, mag diese Betrachtung zeigen – zugleich finden wir in ihr die unbefangene Anerkennung des Einflusses der Bibel auch auf andere Völker. –
Wir bringen diesen Beitrag auszugsweise mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion aus dem Mitteilungsblatt (MB) der europäischen Einwanderer in Israel, der ‚Irgun Olej Europa’ (25/18), Tel Aviv, 3. 5. 1957. Die Redaktion des MB schreibt: Der Unabhängigkeitstag kann ein Anlass sein, um über die Probleme nachzudenken, die unse-rem Staate gestellt sind. Die Zukunft unseres Lebens als Juden im Lande und Staate Israel, die Stellung unserer Gemeinschaft unter den Völkern der Welt und im jüdischen Volke hängt davon ab, wie wir uns den großen, über den Tag hinaus weisenden Fragen gegenüber verhal-ten, deren Lösung uns aufgegeben ist. Einen Beitrag zu dieser Besinnung anlässlich des Tages unserer staatlichen Unabhängigkeit stellt der nachfolgende Aufsatz dar.

Eine Betrachtung zum Unabhängigkeitstag 1957

I.

Es gilt als eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Bibel in Jisrael – besonders für die jüngere Generation – wieder eine entscheidende Bedeutung erlangt hat. Genauer gesehen, betont man bei ihrem Studium vor allem das Archaische, nämlich die archäologischen, folkloristischen, nationalen (Beweise unserer früheren Unabhängigkeit) und militärischen Werte. Dem gegenüber verschwindend gering ist die Bedeutung der Bibel für den heutigen Menschen und die Gemeinschaft in Jisrael auf geistigem und persönlichem Gebiete, vielleicht viel geringer als für viele Millionen Menschen anderer Völker [...].

Es ist klar, dass diese Frage heute – in der Zeit des Werdens der Gesellschaft und des Staates Jisrael – ihre besondere Bedeutung hat. Schon heute führte das oben Gesagte dahin, dass dem jüdischen Staate der weitere und tiefere Hintergrund fehlt (selbst eine Grundverfassung konnte er sich nicht geben), den selbst viele Nichtjuden sofort mit Jisrael gleichsetzen, und dass auf der anderen Seite die Bibel der eigentlichen Beziehung zum Konkreten entbehrt. Dabei denke man daran, dass gerade die Bibel von Anfang an (Abraham!) auf die Gründung einer Gesellschaft und eines Staates bezogen ist [...].

Aber im Gegensatz zur modernen Staatslehre wird hier der Staat nicht als an sich heilig und wertvoll, also als Selbstzweck angesehen, seine Existenzberechtigung ist vielmehr bedingt von seiner Bereitschaft, die jüdischen und sittlichen Werte in seinem Raume zu verwirklichen, wie dies immer wieder in der Tora und von den Propheten betont wird.

II.

In jedem Staate besteht eine oberste Staatsgewalt, auf der alle weiteren Träger des Staates beruhen. In vielen Staaten war dies der König, der dann von der Aristokratie und diese wieder vom Volke abgelöst wurde, meist auf dem Wege blutiger Revolutionen, bis wieder der Ruf nach einem das Chaos beseitigenden Einzelherrscher laut wurde, und so begann der Kreislauf von neuem. Dies war der Lauf der Weltgeschichte, zum großen Teil bis auf unsere Zeit.

Anders im jüdischen Staat. Wohl bewusst im Hinblick auf diese Entwicklung, und um die Staatsvergötzung und den Kampf um die oberste Staatsgewalt zu vermeiden, besteht hier keine solche oberste Gewalt, es sei denn, dass sie in Gott und dem von ihm verkündeten Gesetz gesehen wird (vgl. V. Buch Mose, Kap. 33,5). Immer wieder wird die Bedingtheit der Priester, Weisen und Propheten und die Nichtigkeit der königlichen Gewalt betont. Die Grundlage dieses Staates bildet der Gedanke des Bundes zwischen Gott und den Menschen, zuerst geschlossen mit Abraham, dann in späteren Zeiten immer wieder erneuert. Der Bund drückt die Bereitschaft des Volkes aus, die Tora anzunehmen und zu verwirklichen. Damit wurde das Volk ein gleichsam gleichberechtigter Partner dieses Bundes, „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk“, während andere „Theokratien“, wie Ernst Simon einmal mit Recht bemerkte, ein Reich von Priestern ohne das heilige Volk bildeten.

Weil es hier keine oberste Gewalt gab, wurde das ganze Volk gleich vor dem Höchsten und vor dem Gesetz, ein Grundgedanke, der später tief die Geschichte der westlichen Völker beeinflusste. Auch der zweite Grundgedanke, die Korrelation zwischen Gott, oder den von Ihm Beauftragten und Israel, wird immer wieder, besonders bei feierlichen Anlässen, betont! [...]

III.

Bei entscheidenden Anlässen wird daher das ganze Volk, soweit es noch technisch möglich war, zur Entscheidung aufgerufen (wie dies heute noch in manchen Kantonen der Schweiz üblich ist), sonst bestand der oberste Gerichtshof zuerst von Vertretern aller Stämme, später von den verschiedenen Bezirken gebildet, der nach dem Mehrheitsprinzip seine Entscheidungen fällte, weil überhaupt die Annahme durch die Mehrheit die Gültigkeit aller Beschlüsse und Regelungen seitens der politischen und richterlichen Körperschaften bestimmte, entsprechend dem erwähnten Grundcharakter der jüdischen Verfassung.

Diese Betonung des Mehrheitsprinzips diente nicht dazu, einen technischen und formalen Ausweg bei Meinungsverschiedenheiten zu finden, sondern entsprach der besonderen Wertschätzung der Gemeinde und jedes einzelnen in ihr als des einen Partners in dem Bunde zwischen Gott und dem Menschen. Die Mehrheitsentscheidung wurde daher nicht als Selbstzweck angesehen, und wenn sie für Ziele missbraucht wurde, die dem Geiste und den Grundvoraussetzungen des jüdischen Staates und seines Gesetzes nicht entsprachen, hatte sie natürlich keine Kraft. Man denke hierbei an die völlig andere Haltung moderner Demokratien, die in Verkennung der eigentlichen Dinge dem Nationalsozialismus ermöglichten, aufgrund der Mehrheit zur Regierung zu gelangen und aufgrund desselben „Selbstbestimmungsprinzips“ ihm später das Sudeten-Gebiet zusprachen.

Nach jüdischer Auffassung ist die Meinung der Gesamtheit und jedes Einzelnen wesentlich, wie auch jeder Einzelne seine unantastbaren Rechte hat als ein im Ebenbild Gottes Geschaffener. Daher die besondere Rücksichtnahme auf sein Ehrgefühl, auch im Kriege, wo er die Möglichkeit hat, sich der Familie oder dem Aufbau seiner Wirtschaft im ersten Jahre nach seiner Verheiratung zu widmen, auch sogar ihm aus seinem Angstgefühl heraus fern zu bleiben. Nach einer Deutung dienen die anderen Motive nur dazu, diese Angst vor den anderen zu verschleiern. So haben viele andere Gesetze den Sinn, den Menschen vor einer Erniedrigung des Menschseins zu bewahren. Besondere Rücksicht genießt der Schwache in der Gesellschaft, der Knecht, der Fremde und die Waise, wie auch die entscheidenden Rechte aller (man denke an das Familienrecht) gerade im Hinblick auf diese verkündet werden (z. B. II. Buch Mose, Kap. 21) [...].

IV.

Wie erwähnt, sollte es in diesem Staate keine oberste Gewalt im üblichen Sinne geben. Die eigentliche Lenkung des Staates, die laufende Gesetzgebung und Gesetzesdeutung, die ausführende Gewalt und die Lehre sollten in den Händen verschiedener Träger sein, die sich gegenseitig begrenzten und so einander gleichsam die Waage hielten. Es waren zunächst die Priester, an Stelle der ursprünglich vorgesehenen Erstgeborenen, die den Tempeldienst verrichten und lehren sollten, daher – bewusst im Gegensatz zur ägyptischen Priesterkaste (s. I. Buch Mose, Kap. 47,26) – nicht herrschen, sondern dienen sollten und deshalb auch keinen eigenen Boden hatten, sondern von den anderen abhängig waren (vgl. den Stand der Philosophen und Wächter in Platons Staat). Es sollte in Israel keine Herrschaft eines Klerus geben.

Auf der anderen Seite wählte das Volk, in Stämme oder später in Bezirke eingeteilt, seine Vertreter in das Synhedrion, die politische, richterliche und religiöse Zentralbehörde und wiederum – vertikal – die Räte der Zehner-, Hundert- und Tausendschaften (insgesamt etwa 78 000 Leute), die lange bestanden und den engen Kontakt zwischen dem Volk und der Staatsleitung gewährleisten. Gegenüber dem Gegensatz zwischen der athenischen Demokratie, die das Recht zur Leitung des Staates jedem gleichsam im Turnus – wenn auch nur für ein bis zwei Tage – zusprach, und Platon, der für dieses Amt nur den dazu Befähigten und jahrzehntelang dafür Ausgebildeten geeignet hielt, verhielt die jüdische Politik sich hier – wie in vielen anderen Dingen – aus Erkenntnis der Realität des Lebens ausgleichend. Der Fachmann (Priester oder Gesetzeslehrer) wie auch das ganze Volk und seine von ihm anerkannten Vertreter – jeder kann in Israel Laienrichter sein – hatten jeder seine Stellung im Staate. Die Vertreter wurden vom Volke vorgeschlagen, oder Moscheh und später das Haupt des Synhedrion hatte das Recht, aus der Reihe der Vorgeschlagenen die ihm geeignet Erscheinenden zu bestimmen.

Auch hierbei wird das Grundprinzip, das Zusammenwalten der von oben wirkenden und von unten, vom Volke tragenden Gewalten, erkennbar. Die Zahl der 70 Mitglieder des Synhedrion erklärt sich nach dem Rambam deshalb, weil die Zahl 70 (wie auch 7) nach jüdischer Auffassung eine Gesamtheit, etwas Vollständiges darstellt (daher 70 Völker), und demnach hier alle möglichen Auffassungen und Parteiungen zum gesetzlich geregelten Ausdruck kommen, wodurch also ein Ein- oder Zweiparteiensystem nicht möglich wäre.

Auch das Königtum wurde als Möglichkeit, anscheinend als Konzession an die Sucht, sich mit anderen Staaten vergleichen zu wollen, vorgesehen. Aber wie anders sah dieser König aus! Kein sich mit Gott Gleichstellen, auch kein Königtum von Gottes Gnaden, sondern eine ausführende und anderen unterstellte Kraft. Der sich mit ihm befassende Abschnitt sieht nur Verbote für ihn vor, und das Gebot, dauernd das Gesetz bei sich zu tragen, und sich in ihm zu vertiefen. Der König durfte kein Priester sein (daher auch der Gegensatz zu den Hasmonäerkönigen). Aber alle hatten sich gegenseitig zu begrenzen, damit in jedem Falle die ungebührliche Konzentration der Macht in einem Träger, einer Person oder Gruppe, vermieden wurde.

Der Prophet, dessen Beruf es war, kein Recht zu schaffen, sondern lediglich zu künden, war vorgesehen gleichsam als Notstand, als Sicherung, um die Reinheit des Staates zu wahren. Überhaupt lehnte das Judentum jeden Kult der Persönlichkeit ab, daher keiner das Grab Moschehs wissen durfte, auch sein Name beispielsweise in der Haggada nur einmal beiläufig genannt wird! Natürlich war auch die Gesetzeskenntnis aller, die als oberstes Prinzip galt, dazu angetan, die Vorherrschaft einer Gruppe zu vermeiden und den Kontakt aller Bürger mit dem Staate zu sichern.

V.

Paradoxerweise haben andere Staaten – im Gegensatz zu uns heute – das für die Moderne Entscheidende der jüdischen Politik erkannt und in die modernen Staaten eingebaut. So riefen die Päpste erstmalig im Investiturstreit das Volk gegen Willkürherrschaft auf unter Berufung auf die Bibel. Später wurde dieser Weg weiter entwickelt von der Schweiz, Holland und dem kalvinistischen England, das die Geburtsstätte – ausdrücklich auf der Bibel und dem Vorbilde des jüdischen Staates beruhend – der modernen Demokratie wurde. Nach deren Beispiel wurden dort die Freiheit und Gleichheit der Menschen, das Wahlrecht, die Verurteilung der Tyrannei und die Teilung der Gewalten (Horrington) verkündet und von dort in das puritanische Amerika verpflanzt. Die besondere Hochschätzung der Verfassung – die als fast unantastbar gilt – und des Obersten Gerichtshofes, und die betonte Beschränkung und Teilung der politischen Gewalten, verraten unter anderem den biblischen Ursprung.

Vielleicht werden auch wir heute, neun Jahre nach der Gründung unseres Staates, uns auf das Eigentliche besinnen, was wir zu schaffen haben, die Jüdische Politik, und sie in unserem Staate zum konkreten Ausdruck bringen, unabhängig von unserer privaten religiösen Weltanschauung. Erst dann wird die Bibel ihre Bedeutung in unserm Lande haben, die sie heute – trotz dem Bibellernen – nicht hat, und erst dann wird auch unser Staat seine tiefere Begründung und seinen tieferen Inhalt in unseren Augen, bei unseren hier aufwachsenden Kindern und bei den anderen, von uns hier viel erwartenden Völkern, finden.


X. Folge 1957, Nr. 37/40, Oktober 1957, S. 29–31. Hier geht es zu Teil 2 und Teil 3 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel".


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