Teil 3 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel". (Teil 1: Die Bibel als Grundlage jüdischer Politik; Teil 2: Die Auferstehung der hebräischen Sprache
Auszug aus dem Beitrag "Neuhebräisch?" aus den „Kleineren Schriften“ von Franz Rosenzweig.
[...] Die Wahrheit, dass das Hebräische die heilige Sprache des heiligen Volkes ist, und die Unwahrheit, dass es die gesprochene Sprache eines Volkes wie alle Völker sei, scheinen unversöhnlich. Aber die jüdische Wirklichkeit lässt die beiden, jene Wahrheit und diese Unwahrheit, aufeinander angewiesen sein. Jene Wahrheit will nicht von einem Munde ausgesprochen werden, der sie nur ausspricht, um sich vor jeglichem Tun, sowohl dem Tun der Wahrheit wie dem Tun der Unwahrheit, zu drücken. Und diese Unwahrheit kann im Munde eines, der sie tut, wirklich tut, unversehens zu jener Wahrheit werden. Die gewaltige Erkenntnis des Midrasch, „Auch gegen euren Willen bin ich euer Gott“, steht über allem Jüdischen geschrieben – auch heute noch. Hier wird ein Heiliges, das allem Profanen den Rücken kehren möchte, profanisiert, und die Profanität des ersten Tags eilt dem siebten zu, der sie heiligen wird.
Die Heiligkeit des Hebräischen hat nie Heiligkeit in jenem genauesten, aber eben im Jüdischen überwundenen Sinne der Abgeschlossenheit bedeutet. Stets, nicht bloß zu Moses und Jesaias Zeiten, sind ihr, der heiligen, der Sprache Gottes, aus der gesprochenen, den gesprochenen Sprachen des Menschen Kräfte der Erneuerung zugeströmt. Mit anderen Worten: Das Hebräische war trotz seiner Heiligkeit nie bildnishaft erstarrt, sondern ist immer lebendig geblieben. Das Hebräisch der Tora und das des Buches Esther, die Monumentalität der großen Stammgebete und die artikulierte Gefügtheit der Mischna, der Barock des Kalir und der Klassizismus der großen Spanier, die fromme Nüchternheit des Rambam1 und Raschis2 ruhig-eifriges Lehren, die sprachliche Bedenkenlosigkeit der Tibboniden3, die Ungepflegtheit des Schulchan Aruch, der Historismus der Haskala im historischen neunzehnten Jahrhundert, – das alles ist Hebräisch.
Das gesprochene Hebräisch der Urzeit, die aramäische Gemeinsprache der Perserzeit, dann die griechische der Diadochenstaaten, dann, stärker und nachhaltiger als alles, das Aramäisch der palästinensischen und babylonischen Lehrhallen und gleichzeitig die Sprache der Heere und Gerichte Roms und die der Herrscher und Untertanen des neuen Per-serreichs, dann das Arabisch der islamischen Ärzte und Philosophen, Europas Sprachen wie sie sich unter dem überschattenden Baum der weltkirchlichen Latinität zu eigenen Bildungen entwickelten, sie alle haben an dem Wort- und Satzgewebe des Sprachvorhangs gewirkt, der das Allerheiligste des hohepriesterlichen Volks den Blicken der Weltvölker zugleich anzeigt und verhüllt.
Der Unterschied dieser Lebendigkeit von der einer profanlebendigen Sprache ist nur, dass hier nichts, was einmal aufgenommen wurde, verloren gehen kann: die Sprache wird immer reicher; während die Sprachen der Völker unter dem Gesetz einer dauernden und unter dem Schicksal gelegentlicher katastrophaler Selbstreinigung stehen; die sichert ihnen trotz Schriftwerdung und in deren Gefolge eines Tages eintretendem Klassischwerden eines bestimmten historischen Sprachzustands (das Klassische also gewissermaßen die weltliche Heiligkeit einer Sprache) die Möglichkeit des Weitergesprochenwerdens.
Das Leben der ewigen Sprache aber vollzieht sich genau wie das des Volks nicht in einer solchen Folge von Toden und Auferstehungen, durch die alles irdisch Lebendige sein Leben allein über die zugemesse-ne Spanne der natürlichen Dauer dehnen kann, sondern es ist Nichtsterbenkönnen, Nichtsterbenwollen, Nichtsterbendürfen. Was sie sich einmal wirklich einverleibt hat, scheidet sie nie wieder aus. Sie wächst nicht wie ein Organismus, sondern wie ein Hort – der Schatz, an dem die lebende und sterbende Menschheit der Völker das Nahen des Reichs ablesen darf [...].
Und wie also der Gottessprache des Volks das eigentliche Kennzeichen einer heiligen Sprache, nämlich die Abgeschlossenheit gegen seine gesprochene Menschensprache, abgeht und sie so auch nie zu der magischen Heiligkeit des Kirchenlateinischen oder des Koran-Arabischen entartete, die dem Laien, ist er nur im Geist und Glauben dabei, ruhig unverstanden bleiben dürfen, ja fast wollen4, sondern stets hat sie auf der Forderung wörtlichen Verstandenwerdens beharrt: so fehlt nun auch seinen gesprochenen Sprachen das wesentlichste Merkmal der profanen Lebendigkeit, die volle Hingabe an den gegenwärtigen Augenblick. Sie sind voller Zitate, das Anführungsstrichlein wäre ihre häufigste Interpunktion, noch im Deutsch des entjudetsten Juden.
Wollte das neue, in Palästina gesprochene Hebräisch sich diesem Gesetz des jüdischen Schicksals entziehen, so könnte es das theoretisch freilich, es hätte aber die Folgen zu tragen. Die Folgen wären nicht bloß die für manchen unserer jungen und alten Radikalen ja erwünschte, dass das neue Hebräisch nicht mehr die Sprache des alten jüdischen Volkes wäre; sondern die Hoffnungen auf eine neue, „bodenwüchsige“, „echt-nationale“ Kultur, die das bisher in unserer Geschichte immer ungelöst gebliebene Problem der Vereinigung von Normalität und Individualität (denn wo wir normal sind, gleichen wir den anderen aufs Haar, und unsere Eigenart macht uns zum „Sprüchwort und Spottlied“ der Völker) automatisch lösen würde, hätten wahrscheinlich gar keine Zeit zur Verwirklichung; und Zeit, „einige Generationen“, pflegt doch selbst dieser wundergläubige Nationalismus, der meint, es genüge, die alten Geschäftsbücher zu verbrennen, damit die neuen Kunden in Scharen gelaufen kämen, als Bedingung für das Eintreffen des Wunders zu fordern.
Man denke etwa einmal dem erstaunlichen Phänomen der mehrhundertjährigen Erhaltung des Jüdisch-deutschen, nicht im Osten, sondern in Deutschland selber, nach. Dass es sich im Osten unter anderssprachiger Umgebung erhielt, ist am Ende gar nicht so merkwürdig, wie dass es in der gleichsprachigen Umwelt in seiner Besonderheit beharrte. Das lässt sich nicht aus der Trennung allein erklären, die doch nur sehr unvollständig war. Dies Rückgrat gaben der dialektischen Abweichung nur die wirklichen sprachfremden Bestandteile, ihr Gehalt an Hebräisch, altem, beziehungsreichem Hebräisch. Freilich daneben noch der Rückhalt, den sie an dem Judendeutsch der nach sprachfremden Gegenden gewanderten Brüder fand.
Ohne solche historische Verfestigung und geographische Spannung wäre sie notwendig dem Schicksal aller dialektischen Splitter verfallen. In dieser Lage würde sich aber ein Hebräisch palästinensischer Siedler befinden, das auf historische Verbundenheit und transpalästinensische Verpflichtheit so bewusst verzichten würde, wie das eine natürliche Sprache um ihrer normalen ungehemmten Entwicklung willen allerdings müsste; und die Aufsaugungsgefahr ist umso größer, weil das Arabische, wenigstens das heutige, in Wort- und Formbildung dem Hebräischen sehr nah, im Wortschatz trotz durchgängiger etymologischer Beziehungen sehr fern steht. So ist ein Hebräisch, das, wie andere Sprachen sich auf seine Gesprochenheit allein verlassen möchte, fast wehrlos der arabischen „Überfremdung“ preisgegeben.
Aber das sind, wie gesagt, alles nur theoretische Erwägungen. Die freilich von den eigenen Theorien der Beteiligten ausgehen, aber eben nur von ihren Theorien und nicht von ihrer mit Notwendigkeit gerade entgegengesetzt gerichteten Praxis. Man kann eben nicht so Hebräisch sprechen wie man möchte, sondern man muss es schon so sprechen, wie es einmal ist. Und es ist vergangenheitsgebunden und weltverpflichtet, auch im Munde des jüngsten Siedlerkindes der neustgegründeten Siedlung. Denn das Zentrum, welches das neue Palästina in vormessianischer Zeit ja höchstens werden könnte, würde in dieser Zeit mitnichten Zentrum im Sinne Achad Haams sein, der eben den voreiligen Messianismus bremsen wollte und ihm dann in seiner Kulturseligkeit doch gerade verfiel, sondern nur im Sinne der – Mathematik. Denn zwar anschaulich liegt der Kreis um seinen Mittelpunkt herum, aber konstruktiv ist mit dem Mittelpunkt noch gar nichts über die Fläche entschieden, die der Kreis einnehmen wird, während schon mit dem kleinsten Stückchen Peripherie der Ort des Mittelpunkts eindeutig festgelegt ist.
So wird auch ein geistiges Zentrum, wie es in Palästina erhofft werden kann, zwar weithin sichtbar und so für das Gesamtjudentum repräsentativ sein; aber wenn es Zentrum sein will und nicht irgend ein beliebiger, in jedern Sinne exzentrischer Punkt, so muss es sich von der Peripherie und von ihrem Daseinsgesetz abhängig machen, – solange es eben eine Peripherie gibt, also in jeder vormessianischen Zeit. Also, nüchtern bis zur Blasphemie ausgedrückt: der Geist dieses geistigen Zentrums kann sich gar nicht, auch wenn er es noch so gern möchte, im Sinne des reinen, hemmungslos entwicklungslustigen Nationalismus entwickeln; er muss, um seines Zentrumscharakters willen, dauernd Rücksicht nehmen auf die Peripherie, deren Lebensgesetz jener reine Nationalismus nun einmal nie sein kann, sondern die immer gezwungen sein wird, ihr nationales Element als eine Funktion des religiösen zu behandeln, aus einfachen Gründen der Minderheitssoziologie. Gründe, die dann freilich, wenn man ihnen nachgeht, wieder rasch aus dem Blasphemischen heraus und in das Metaphysische hineinführen: denn warum sind wir immer Minderheit gewesen?, und warum können wir nicht aufhören, es zu sein?
Was hier allgemein gesagt ist, das gilt nun ganz und von dem Kern alles nationalen Daseins, von der Sprache. Sie kann nicht werden wie sie will, sondern sie wird werden wie sie muss. Und dieses Muss liegt nicht wie bei jeder natürlich-nationalen Sprache in ihr selber, sondern außerhalb ihrer Gesprochenheit, in der Erbmasse der Vergangenheit und in dem gewahrten Zusammenhang mit denen, deren Judentum notwendig wesentlich das des Erben ist. Die doppelte Bindung in ihrer Unnormalität bedeutet aber zugleich, je spürbarer sie ist, eine Lösung von den Fesseln der Normalität [...].
Was ich mit der Lösung aus den Fesseln der Normalität meine, kann ich deutlicher an einem anderen Beispiel erläutern. Vor mir liegt ein zionistisches Bilderbuch mit Landschaften aus Palästina und zweisprachigem Text. Das Vorwort, ursprünglich deutsch geschrieben, schildert mit allen Tinten europäischer und, wenn man Rabindranath Tagore für typisch nehmen darf, auch asiatischer Stilistik die palästinensische Landschaft und macht dabei, zwischen hin- und herzuckenden Gegensätzen und einem naturgegebenen Mittelpunkt, der Offenbarung folgende himmlisch begehrockte Respektvisite: „Ist es ein Zufall, dass in dieser Landschaft der Prophetismus erstand? Dass der Mensch hier wie am Sinai die ausschließende Einheit Gottes erkannte und das eine, was dem Menschen nottut, sittlich, das heißt gerecht zu sein?“
Aus diesem mit allen Wassern neudeutschen Universitätsidealismus ge- und verwaschenen Satz hat der hebräische Übersetzer folgendes gemacht: „Ist es ein Zufall, dass dieses Hochland zur Lagerstatt der Prophetie wurde? Dass hier wie am Sinai sich dem Menschen offenbarte der Eine Gott und ihm ,gesagt ward, was gut ist und was Er von ihm fordert: Recht tun und Güte lieben’?“ Aus gebildetem Gewäsch ist in der Übersetzung, die nicht ihrem allfälligen Können, sondern dem gesetzesmäßigen Müssen der Sprache folgte, das einfache Wort der Wahrheit geworden. Quod erat demonstrandum. Hör’s daraus!
- Rabbi Mosche Bar Maimon = Maimonides, Philosoph des 12. Jahrhunderts.
- Rabbi SCH’lomo ben Izchak, Exeget des 11. Jahrhunderts.
- Schüler des Samuel ibn Tibbon im 13. Jahrhundert.
- Es darf wohl bemerkt werden, dass es sich dabei höchstens um den Missbrauch eines Latein handeln könnte, das als Sprache der römischen Mutterkirche der westlichen Christenheit nicht als ‚Sakralsprache’ verbindlich erklärt wurde (Anm. der Redaktion).
X. Folge 1957, Nr. 37/40, Oktober 1957, S.33 –34. Teil 3 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel. Hier geht es zu
Teil 1, Die Bibel als Grundlage jüdischer Politik, und
Teil 2, die Auferstehung der hebräischen Sprache.