Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv vor 1986 > 1206  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Artikel
Mitteilungen
Rezensionen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Dr. Hugo Bergmann

Die Auferstehung der Hebräischen Sprache

Teil 2 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel".  (Teil 1: Die Bibel als Grundlage jüdischer Politik; Teil 3: Neuhebräisch?)

Als ich vor genau zehn Jahren im Frühjahr 1947 als Mitglied einer Delegation des damals unter englischem Mandat stehenden Palästina an einem interasiatischen Kongress in Delhi teilnahm und mit vielen Delegierten aus den asiatischen Ländern ins Gespräch kam, da fand ich, dass diese Delegierten aus Indien, Ceylon, Indonesien usw. sich vor allem für zwei Themen, Palästina betreffend, mit mir unterhalten wollten: über die landwirtschaftliche Kooperation und über die Auferstehung der hebräischen Sprache. Über die Kooperation ist im Westen genug geschrieben und gesprochen worden, aber über die Wiederbelebung der hebräischen Sprache ist wenig bekannt. Und diese Frage war damals den asiatischen Völkern so sehr interessant, weil die neuen Staaten, die vor zehn Jahren gerade in Bildung begriffen waren, vor die Frage gestellt wurden, wie sie sich eine Staatssprache geben sollten, welche an die Stelle des Englischen treten werde. Das Problem ist noch heute sehr umstritten, ob und wie es möglich sein wird, das Englische, das die Bildungssprache der tragenden Schicht ist, zu ersetzen durch eine der einheimischen Sprachen.

Nun, bei uns in Israel ist die Frage sehr gut gelöst worden, wohl besser als alle anderen Probleme, vor welche uns die Geschichte gestellt hat. Uns selbst, die wir seit mehreren Jahrzehnten in Palästina leben und die wir diesen Prozess sozusagen am eigenen Leibe mit dem Heranwachsen unserer Kinder mitgemacht haben, erscheint die Wiederbelebung der hebräischen Sprache fast wie ein Wunder, das wir erlebt haben, aber kaum erklären können.

Die hebräische Sprache ist seit vielen Jahrhunderten eine sogenannte tote Sprache gewesen. Schon zur Zeit Jesu sprachen die Juden nicht hebräisch, sondern aramäisch, das allerdings dem Hebräischen sehr nahe steht. Aber je weiter sich die Juden in ihrer Zerstreuung von ihrem Zentrum in Palästina entfernten, desto mehr verdrängten die Sprachen der Völker, unter denen sie wohnten und deren Sprache sie annahmen, das Hebräische. Wohl bildeten sich Dialekte, die eine Amalgamierung des Hebräischen mit der Sprache der Umgebung darstellten, wie etwa das Jiddische, das eine Mischung von deutschen, slawischen und hebräischen Elementen ist, wobei die Worte, welche dem Hebräischen entstammten, meist jenes Kulturgut betrafen, das sich um das religiöse Leben kristallisierte. Also die Sprache der Umgebung für den Wortschatz des Alltags, die hebräische Sprache aber für den Wortschatz des religiösen Lebens – das war das Prinzip, nach welchem sich die verschiedenen Judendialekte bildeten: das Jiddische, das Jüdisch-Spanische, das Jüdisch-Arabische usw.

Das Hebräische blieb dem religiösen Kulturkreis vorbehalten. Nur wenn sich Juden ganz verschiedener Kulturen, etwa ein Jude aus dem Jemen, mit einem deutschen Juden trafen, benützten sie notgedrungen das hebräische Vokabular auch für Gegenstände des Alltags. Aber das war natürlich eine seltene Ausnahme. So blieb die Lage bis zu den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Das Hebräische blieb in all diesen Jahrhunderten die Sprache der Gebete, der Bibelkommentare, der liturgischen Lyrik und jener Bücher, in welchen die großen Rabbiner Entscheidungen in religiösen Fragen fällten; nebenbei gesagt sind diese sogenannten Responsen eine sehr wichtige und noch nicht ganz erschlossene Quelle zur Kulturgeschichte früherer Jahrhunderte, und zwar sowohl der Juden wie der Nichtjuden, weil die Fragen, die da abgehandelt wurden, dem täglichen Leben entstammten. Aber ein großer Teil der geistigen Schöpfungen der Juden des Mittelalters, insbesondere die philosophischen Schriften, wurde nicht hebräisch, sondern meist arabisch abgefasst und verbreitete sich in der alten Welt dann freilich durch hebräische Übersetzungen, die aber nicht vom Autor stammten. Und die Welt des Alltags war enthebräi-siert. Dazu mag beigetragen haben, dass das Hebräische als heilige Sprache galt und die Juden sich sträubten, die heilige Sprache durch den Gebrauch im Alltagsleben zu entheiligen.

All dies änderte sich nun plötzlich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Gründe dieser Änderung waren mehrfach. Die zionistische Bewegung, die damals entstand, gab sich als eine nationale, religiös indifferente Bewegung. Sie erkannte die Trennung von heiligen Bezirken und Alltag nicht an. Indem das religiöse Moment vor dem nationalen zurücktrat, wurde die Frage aktuell, wodurch denn auch der nichtreligiöse, säkularisierte Jude, der die Synagoge nicht besuchte, seine Zugehörigkeit zu seinem Volk zu dokumentieren habe. Ein junger hebräischer Schriftsteller namens Elieser Ben Yehuda, selbst areligiös, der am Ende des 19. Jahrhunderts nach dem damals türkischen Palästina aus Russland einwanderte, verfocht von dort aus mit Radikalität die Forderung: das Hebräische muss Sprache des Alltags werden.

Diese Forderung war im damaligen Palästina auch von einer praktischen Bedeutung, weil schon im Beginn der damals sehr kleinen zionistischen Kolonisation in Palästina Juden aus allen Ländern zusammenkamen und so das Hebräische von aktueller Bedeutung wurde als ein Verständigungsmittel. So vereinigten sich Theorie und Praxis zu dieser Forderung einer Belebung der hebräischen Sprache im Alltag, einer Forderung, die freilich auch in zionistischen Kreisen sehr utopisch klang. Als Theodor Herzl, der Begründer der politisch-zionistischen Bewegung, 1895 sein programmatisches Buch „Der Judenstaat“ veröffentlichte, das die Gründung des Judenstaates voraussah, warf er die Frage auf: Wie werden wir Juden uns untereinander verständigen?", und er fügte hinzu: „Wir werden doch nicht hebräisch spre-chen!“ Und als 1897 und in den folgenden Jahren die ersten zionistischen Kongresse, von Herzl einberufen, in Basel tagten, war die Verhandlungssprache selbstverständlich deutsch, und wenn Delegierte aus Palästina hebräisch sprachen, verzeichnete das Protokoll lakonisch: „Redner sprach hebräisch.“ Die hebräische Rede war also für das Protokoll verloren. Dass die Sprache der Bibel im Laufe einer Generation die allgemein gebrauchte Sprache von 1 800 000 Menschen in Israel und die offizielle Sprache der Regierung des Staates Israel sein werde, hätte damals sicher völlig utopisch geklungen, ein Wunder.

Und dieses Wunder ist tatsächlich geworden. Die Schwierigkeiten freilich waren zunächst berghoch. Wo sollten die Worte des Alltags hergenommen werden, nachdem die Sprache durch viele Jahrhunderte nicht mehr die Befruchtung des täglichen Lebens erfahren hatte? Wo sollten der Schuster, der Tischler, der Bauer die Bezeichnung für ihre Werkzeuge hernehmen? Und wie sollte die ganze Reichhaltigkeit des modernen Lebens und seiner Entdeckungen und Erfahrungen in einer toten Sprache ausgedrückt werden?

Zum Glück hatte sich damals am Ende des 19. Jahrhunderts in Palästina eine kleine Schar von Menschen zusammengefunden, deren Kenntnisse auf dem Gebiete der Jahrtausende alten hebräischen Literatur gewaltig waren. Ben Yehuda, der mit der radikalen Forderung der Hebräisierung des täglichen Lebens hervorgetreten war, war einer von ihnen und schuf das große Wörterbuch „Thesaurus“ der hebräischen Sprache, das nach seinem Tode von anderen fortgeführt wurde und schließlich unter der Leitung von Professor Torcziner (Tur Sinai) von der Hebräischen Universität vollendet wurde und den hebräischen Sprachschatz vor allem der nachbiblischen Periode ans Licht hob. Hauptsächlich war es die Mischna, das ist die Gesetzessammlung, welche die Grundlage des Talmud bildet und in einem glänzenden, knappen und konzisen Hebräisch geschrieben ist – sie ist im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung entstanden –, welche zur reichen Fundgrube eines Vokabulars wurde.

In Jerusalem bildete sich ein sogenanntes Sprachkomitee (Vaad halaschon), welches kleinere Broschüren herausgab, welche dem Schuster, dem Tischler, dem Chauffeur, dem Elektriker, dem Psychologen sein Vokabular vorbereitete. Diese Vokabulare entstanden und entstehen aus gemeinsamen Beratungen der Philologen mit den Spezialisten des betreffenden Fachs. Die reiche medizinische hebräische Literatur des Mittelalters wurde durchgearbeitet und ein großes medizinisches Wörterbuch geschaffen, dessen Autoren zwei Ärzte, darunter der Dichter Tschernichovsky, waren.

Dieses hebräische Sprachkomitee ist seit Begründung des Staates Israel durch ein besonderes Gesetz in eine Akademie der hebräischen Sprache umgewandelt worden. Diese Akademie trifft neben der Herausgabe praktischer Wörterbücher für einzelne Fachkreise Vorbereitungen für die Abfassung von Wörterbüchern für die verschiedenen Schichten der hebräischen Sprache – Bibel, Talmud, mittelalterliche Literatur usw. Das Ziel ist, diese verschiedenen Schichten und Wörterbücher schließlich zusammenfließen zu lassen in ein umfassendes Akademisches Gesamtwörterbuch.

Eine besondere Schwierigkeit bildet die Anpassung der Sprache an die Forderung des modernen Lebens. Wie weit dessen internationale Bezeichnungen übernommen werden, welche griechisch-lateinischen Wurzeln entstammen und dem semitischen Charakter der Sprache Abbruch tun müssen? Der Kampf um diese Frage geht hin und her. Abgesehen vom theoretischen Problem des Purismus, das ja auch in anderen Sprachen aktuell ist, besteht für eine semitische Sprache die Schwierigkeit, dass das Fremdwort sich den Flexionen widersetzt, welche das Hauptwort in ein Zeitwort verwandeln. Die deutsche Sprache sagt etwa „Telegraf“ und kann das Hauptwort sofort zu einem Zeitwort „telegrafieren“ umwandeln, aber für eine semitische Sprache bestehen hier Schwierigkeiten, die oft nicht zu überwinden sind. Mitunter gelingt diese Verwandlung in dieses Zeitwort leicht. Als das Fremdwort Telegraf und Telefon ins moderne Hebräische übernommen wurde, bildete man für die entsprechenden Zeitwörter die Verbalformen Talgref und Talfen ohne Mühe, und diese Worte klingen fast hebräisch.

Aber nur selten gelingt eine solche Lösung, und meist widersetzt sich die hebräische Sprache der Verbalisierung eines Fremdwortes. Wenn wir etwa das Wort ideal oder real, das dem philosophischen Vokabular entstammt, im Hebräischen wiedergeben durch ideali und reali, so besteht keine Schwierigkeit, aber wenn wir dann aus diesem Eigenschaftswort ein Zeitwort wie idealisieren oder realisieren bilden wollen, widersetzt sich die Sprache. Jeder Übersetzer eines philosophischen Textes sieht sich vor diese Schwierigkeit gestellt, da er doch verpflichtet ist, dem Leser das Zeitwort und das Eigenschaftswort, das der von ihm zu übersetzende Autor von einem Wortstamm bildete, wiederum durch einen Wortstamm wiederzugeben.

Eine besondere Schwierigkeit bildet die Syntax. Wir haben im Hebräischen nur drei Zeiten und so entsteht die Gefahr, dass feine Nuancierungen, wie der Unterschied zwischen Vergangenheit und Vorvergangenheit nicht zum Ausdruck kommen. Auch liebt das Hebräische kurze Sätze und nicht lange Perioden. Als ich selbst zusammen mit meinem Kollegen, Professor Rothenstreich, Kants Kritik der reinen Vernunft ins Hebräische übersetzte, sahen wir uns immer wieder vor die Notwendigkeit gestellt, Kants lange schöne Perioden zu zerschneiden und in mehrere nebengeordnete Sätze aufzulösen. Es war eine Arbeit mehrerer Jahre. Die Übersetzung erschien 1953 in Jerusalem und wir arbeiten gegenwärtig an einer Übersetzung von Kants Kritik der Urteilskraft, die im Laufe des letzten Jahres als Text für die philosophischen Seminarübungen zugrunde gelegt wurde.

Die Gründung des Staates Israel 1948 brachte natürlich einen gewaltigen Aufschwung der hebräischen Sprache mit sich. Wohl hatte schon die hebräische Universität, welche 1925 gegründet wurde, in allen ihren Fakultäten das Hebräische zur Unterrichtssprache gemacht und dadurch einen großen Teil der Sprachprobleme gelöst. Jetzt aber entstand eine israelische Armee, welche sich in aller Eile eine Militär-Terminologie schaffen musste. Die israelische Armee ist gegenwärtig das praktisch wichtigste Instrument, wo die aus allen Ländern stammenden Immigranten zu einem Volk zusammengeschmolzen werden, und das Hebräische spielt als Mittel der Verständigung dabei natürlich die Hauptrolle.

Alle hebräischen Zeitungen haben besondere Rubriken für Fragen der Sprachentwicklung, und wir erleben es häufig, dass im Parlament oder in einer politischen Versammlung ein neues Wort, das ein Redner im Fluss einer Ansprache geprägt hat, das höchste Interesse erregt und philologische Zwischenrufe hervorruft, welche die politischen Leidenschaften zugunsten des sprachlichen Eifers zurückdrängen und mäßigen.


X. Folge 1957, Nr. 37/40, Oktober 1957, S. 31–32. Teil 2 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel". Vortrag von Dr. Hugo Bergmann, Professor an der Hebräischen Universität, gehalten für den Südwestfunk am 15.11.1957. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 3 des Sammelbeitrags "Die Bibel und ihre Sprache im neuen Israel".

 



top