Für Forschungszwecke vgl. zum Thema Wiedergutmachung: Otto Küster, Das Gesetz der unsicheren Hand. Vortrag über die bundesgesetzliche Wiedergutmachung.
Otto Küster und die individuelle Wiedergutmachung: I. Der Fall Küster; II. Stimmen zum Fall Küster; IV. Statt Wiedergutmachung. Ein Beitrag von Heinz Galinski; V. a) Entschließung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesllschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; V. b) Zur individuellen Wiedergutmachung. Ein Beitrag von Prof. Franz Böhm.
Die Entlassung des Rechtsanwalts Otto Küster als Leiter der Wiedergutmachungsabteilung des Justizministeriums im Lande Baden-Württemberg hat die Opfer des Nationalsozialismus und diejenigen, denen es mit ihr ernstestes Anliegen ist, das verletzte Recht wiederherzustellen, lebhaft beunruhigt und mit tiefer Sorge erfüllt.
Der "Fall Küster" hat aber noch eine andere Seite, deren Anblick jeden erschrecken, ja sogar empören muss, der eine klare und wahrhaftige Haltung der Regierung in einem demokratischen Staatswesen für unerlässlich hält. Es ist besonders bedauerlich, wenn ein verantwortungsbewusster und sonst so gerecht denkender Mann wie der Ministerpräsident in einer so bedeutsamen Angelegenheit zu einer derart irrigen Entscheidung kommt.
Nach meiner Meinung haben der Ministerpräsident und der Justizminister von Anfang an ihrer Haltung Küster gegenüber eine Begründung gegeben, die den Tatsachen nicht - zum mindesten nicht voll - entspricht.
Der Ministerpräsident kennt sein eigenes Innere nicht, wenn er darauf beharrt, es sei ihm nur darauf angekommen, das Mandatsverhältnis Küsters in ein Beamtenverhältnis umzuwandeln, gegen die Person Küsters habe er nichts gehabt, er habe ihn ja auch für den geeignetsten Mann zur Leitung der Wiedergutmachungsabteilung gehalten und ihm eine hohe Beamtenstelle angeboten. Und er täuscht sich über sich selber, wenn er meint, zwischen ihm und Küster bestünden in der Wiedergutmachung - von dem Vertrag mit Israel abgesehen - keine Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art. Geradezu rührend naiv ist aber folgende Feststellung des Justizministers: "Mit der allein entscheidenden Seite des Falles Küster steht die Nachprüfung der gegen Herrn Küster Ende Januar durch den früheren Leiter des Landesamtes für Wiedergutmachung in Stuttgart erhobenen Vorwürfe weder in einem äußeren noch in einem inneren Zusammenhang."
Das Gegenteil erhellt daraus, dass der Ministerpräsident vor dem Finanzausschuss des Landtags unter dem Schutz der "Vertraulichkeit" schwere Vorwürfe gegen Küster an Hand eines Ermittlungsberichtes über die gegen Küster gerichteten Anschuldigungen erhoben hat, zu dem sich zu äußern Küster die Möglichkeit absichtlich vorenthalten worden ist.
Diese meine Behauptungen will ich mit den folgenden Ausführungen zu erweisen versuchen.
Der Vorkämpfer
Die Wiedergutmachung des vom Nationalsozialismusbegangenen Unrechts ist eine Ehrenschuld des deutschen Volkes und eine der grundlegenden Voraussetzungen jeder demokratischen Erneuerung. Und nur durch die Einlösung dieser Ehrenschuld kann das deutsche Volk schlüssig beweisen, dass es die in seinem Namen von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen verurteilt. Das wird ein Politiker und Minister auch heute noch nicht öffentlich zu bestreiten wagen.
Aber diese Grundsätze in die Tat umzusetzen, war und ist sehr schwierig und sehr mühsam. An ihrer Verwirklichung hat bisher unverdrossen, mit größter Sachkenntnis, untrüglichem Gerechtigkeitsgefühl und nie erlahmender Energie Küster im Land und im Bund gearbeitet. Die Sachkenner wissen, dass sein Wirken vorbildlich war. Es wurde ihm dadurch erleichtert, dass er freier Rechtsanwalt bleiben konnte und auf Grund eines Mandatsvertrages tätig war und dass ihm, als er in der Wiedergutmachungsarbeit einen Sonderminister ablöste, die Stellung eines Vizeministers eingeräumt wurde, der unmittelbar schriftlich und mündlich mit dem Landtag verkehren durfte.
Unermüdlich arbeitete Küster auch an einem einheitlichen Bundesentschädigungsgesetz mit; er tat das mit dergleichen Energie, mit der er das Israel-Abkommen vorangetrieben hatte. Leider war ihm hierbei nur ein kümmerlicher Erfolg beschieden.
Ich brauche nicht auf das Bundesentschädigungsgesetz vom 18. September 1953 und seine Entstehungsgeschichte einzugehen. Was darüber und dazu zu sagen ist, hat Küster selber in seinem am 3. Dezember 1953 in Freiburg gehaltenen Vortrag gesagt. Wer es mit der Wiedergutmachung aufrichtig meint, muss Küster Recht geben. Mit diesem dürftigen Gesetz kann das deutsche Volk seine Ehrenschuld nicht einlösen.
Deshalb musste das, was Küster zu diesem Gesetz gesagt hat, gesagt werden, und keiner konnte es besser als er. Wer so klar und deutlich spricht, wer so überzeugend die Kümmerlichkeit einer Gesetzesarbeit aufzeigt, schafft sich notgedrungen Feinde. Dass Bundesfinanzminister Schäffer zu ihnen gehört, ist bekannt.
Anstatt die nur zu berechtigte Kritik sich zu Herzen zunehmen, hat er am 31.5.1954 dem Justizministerium von Baden-Württemberg geschrieben: "Solange Herr Küster, dem sachliche Kritik, soweit er sie als freier Anwalt und Staatsbürger übt, nicht verwehrt werden soll, in seiner Eigenschaft als Staatsbeauftragter Ihres Landes und Abteilungsleiter Ihres Hauses, fortfährt, in öffentlich gehaltenen Reden das Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht nur zu kritisieren, sondern in der von ihm bisher beliebten Weise als ein Machwerk unfähiger Personen hinzustellen, erscheint eine Zusammenarbeit mit ihm nicht möglich. Ich kann daher auch nach erneuter Prüfung meine Weisung an die Herren meines Hauses, allen Verhandlungen über Fragen der Wiedergutmachung fernzubleiben, an denen Herr Küster als Vertreter des Landes Baden-Württemberg noch teilnehmen sollte, nur aufrechterhalten." Damit hat - was nebenbei bemerkt sei - der Bundesfinanzminister nach meiner Auffassung die Verfassung verletzt (s. Art. 53 BGG).
Aber nicht nur Herr Schäffer, sondern auch Ministerpräsident Dr. Gebhard Müller ist schon lange ein Gegner Küsters.
Ein alter Groll
Dr. Müller hat schon, als er noch Staatspräsident des Landes Württemberg-Hohenzollern war, an der Person Küsters, seiner Stellung und seinem Auftreten im Bundesrat Anstoß genommen und sich entsprechend geäußert. Das kann ich aus eigener Wahrnehmung bezeugen.
Er hat sich dann später, offenbar in ähnlicher Weise, über Küster ausgesprochen. Im Herbst 1952 erfuhr dieser nämlich, dass Dr. Müller behaupte, er - Küster - sei Mitglied der SPD und verschaffe den Juden übermäßige Leistungen aus öffentlichen Mitteln. Küster schrieb darauf Dr. Müller am 8.10.1952 einen Brief, in dem er darauf hinwies, er sei nicht Mitglied der SPD, die Behauptung Dr. Müllers sei zwar nicht ehrenrührig, aber immerhin irreführend, und in dem er ausführte, dass die Wiedergutmachung Baden-Württembergs sich ihren Ruf nicht durch die Größe der Leistungen erworben habe - Nordrhein-Westfalen z. B. habe auf den Kopf der Bevölkerung weit mehr bezahlt -, sondern dadurch, dass Einsicht und Beschämung über das Geschehene zum Ausdruck gebracht und eine, wenn er so sagen dürfe, bußfertige Energie betätigt worden sei. Ferner klärte er Dr. Müller in diesem Brief darüber auf, dass der von ihm - Küster - ursprünglich abgelehnte Gedanke einer Zahlung an Israel vom Bundeskanzler Dr. Adenauer selber stamme, und bedauerte schließlich, mit einem Manne, den er seit der ersten Begegnung in den Jahren der Unterdrückung schätze, jetzt kontrovers werden zu müssen. Darauf erhielt Küster unter dem 16.10.1952 eine Antwort Dr. Müllers, die dahin ging, er könne vorläufig zu den Küster hinterbrachten Äußerungen keine Stellung nehmen: da er auf Grund bitterer Erfahrungen schon lange die Übung habe, in solchen Fällen eine Stellungnahme davon abhängig zu machen, dass ihm der Name der Gewährsmänner genannt werde, denn das so beliebte Verfahren, aus dem Hintergrund über irgendwelche Äußerungen, besonders vertraulicher Art, einem Dritten zu berichten, habe schon maßloses Unheil angerichtet. Am 22.10.1952 teilte Küster Dr. Müller den Namen eines Gewährsmannes mit dessen Zustimmung mit.
Aber siehe, da ward keine Stimme noch Antwort. Als Dr. Müller Ministerpräsident geworden war, kam Küster noch einmal auf die Angelegenheit zurück - vergeblich jedoch. Ein solches Verhalten - wie es Dr. Müller hier gezeigt hat - nennt man, wenn man gradheraus und derb reden will, "kneifen". Die Anwürfe "vertraulicher Art" sind offenbar noch massiver gewesen, als Küster sie in seinem Brief an Dr. Müller vom 8.10.1952 zitiert hat. Sie sollen etwa gelautet haben: Küster sei Adenauer und Schäffer in den Rücken gefallen, er hätte die Bundesrepublik an die Juden verraten und uns um viele Milliarden gebracht, überdies verschwende er Steuergelder Baden-Württembergs an die Juden; wenn er - Dr. Müller - in Stuttgart an die Macht käme, werde er aufräumen. - Küster hat diese Fassung in seinem Brief an Professor Dr. Böhm mitgeteilt. Dr. Müller hat dieser Fassung nicht widersprochen, obwohl der Justizminister eine Abschrift dieses Briefes den Abgeordneten des Landtags hat zugehen lassen. Ist es zuviel gesagt, wenn man behauptet, diese massive Fassung der Äußerungen Dr. Müllers ist nach dessen Verhalten im Herbst 1952 Küster gegenüber, nach seinem Schweigen auf die Wiedergabe im Brief an Professor Böhm und nach seinem Vorgehen gegen Küster durchaus glaubhaft? Nicht geglaubt werden kann aber die Darstellung Dr. Müllers, es sei ihm nur um die Beseitigung des von ihm für verfassungswidrig gehaltenen Mandatsverhältnisses bzw. um dessen Umwandlung in ein Beamtenverhältnis gegangen und nicht um die Person Küsters. Die Gelegenheit, den alten Groll sich auswirken zu lassen, sollte bald kommen.
Vor allem war Dr. Müller das Mandatsverhältnis ein Dorn im Auge. Er war und ist der Meinung, ein Posten, wie ihn Küster seit 1945 mit großem Erfolg versehen hat, könne nur von einem Beamten bekleidet werden. Darüber kann man tatsächlich verschiedener Meinung sein. Immerhin, den Vertrag hatte der hochangesehene frühere langjährige Justizminister Dr. Beyerle abgeschlossen, von dem Dr. Müller sehr gefördert worden ist, und der ihm an juristischen Kenntnissen und Fähigkeiten bestimmt nichts nachgibt. Zwei Nachfolger Dr. Beyerles als Justizminister hatten den Vertrag ebenfalls für zulässig gehalten. Dass man mit ihm neue Wege gegangen war und er deshalb unbeugsamen Vertretern des überkommenen Beamtenwesens nicht gefiel, sei nicht bestritten. Aber man hätte sich doch fragen können, ob ein Auftragsverhältnis nicht auch noch bis zum Abschluss der Wiedergutmachung bestehen bleiben könne, nachdem der Beauftragte seinen Auftrag bisher so ausgezeichnet ausgeführt und unter Überwindung großer Anfangsschwierigkeiten die Wiedergutmachungsbehörden aufgebaut und ihre Geschäfte flott in Gang gebracht hatte.
Aber Dr. Müller war der Meinung, Küster habe seinen Auftrag nicht richtig, sondern zum Schaden des Landes ausgeführt.
Der erste Angriff
In Verhandlungen über die Höhe der Vergütung Küsters, in denen vor allem das Finanzministerium beamtenrechtliche Bedenken gegen Küsters Anträge vorbrachte, hatte das Justizministerium vorgeschlagen, Küster solle Beamter und es solle für ihn eine Ministerialdirigentenstelle (B 7a) geschaffen werden. Darüber kam es zu einer Unterredung zwischen Dr. Müller und Küster am 9. Januar 1954. Dr. Müller behauptet, er habe hierbei erklärt, Küster müsse Beamter werden, er könne zum Ministerialdirigenten ernannt werden, wenn der Landtag zustimme; er - Müller - habe damit geschlossen, dass er gesagt habe, Küster könne nicht damit rechnen, dass er seine Meinung ändere. In der Landtagssitzung vom 17.7.1954 erklärte er wörtlich: "Ich habe ihm einen Vorschlag gemacht, der ihn immerhin nach etwa 8- bis 9-jähriger Tätigkeit im Justizdienst bereits in eine der obersten Stellen der Ministerialbürokratie bringt. Kann man eigentlich noch loyaler verfahren, als dass ich nun selber versuchte, Herrn Küster diese Regelung schmackhaft zu machen ..."
Küster gibt eine etwas andere Darstellung. Danach habe Dr. Müller zwar gesagt, er - Küster - müsse Beamter werden, aber zur Begründung hinzugefügt, sonst hätte man ja nicht einmal die Möglichkeit eines Disziplinarverfahrens gegen ihn. Auf seine vergewissernde Frage, ob es überhaupt stimme, dass man ihm eine B 7a-Stelle biete, sei die Antwort Dr. Müllers erfolgt, das habe nicht er gesagt, sondern der Vertreter des Justizministeriums, er wisse ja gar nicht, ob eine solche Stelle bewilligt werde. Dr. Müller habe auch nicht mit der Erklärung geschlossen, Küster könne nicht damit rechnen, dass er seine Meinung ändere, sondern damit, dass er auf seine - Küsters - Frage, ob er - Müller - also dem Ministerrat die Beendigung des Dienstverhältnisses vorschlagen werde, zur Antwort gab: "Ja, das werde ich - oder ich werde gar nichts tun."
Man muss schon sagen, die Begründung mit dem Disziplinarverfahren war ja sehr "schmackhaft" für den unfreiwilligen Bewerber um eine Beamtenstelle. Aber das mag auf sich beruhen.
Wenn je in einem Fall, so kann man hier ex eventu entscheiden. Und diese Entscheidung kann nur lauten, die Darstellung Küsters ist richtig. Dr. Müller hat ihm nie ernsthaft eine Ministerialdirigentenstelle angeboten, er hätte sonst nicht im Juni, nachdem er bis dahin die Sache hatte auf sich beruhen lassen, mit dem Angebot nur einer Ministerialratstelle herausrücken dürfen. Kein Beamter, dem man zuerst eine Dirigentenstelle angetragen hat, wird nach ein paar Monaten mir nichts dir nichts eine Ratstelle annehmen. Er wird vielmehr mit Recht aus einem solchen Wechsel des Angebots schließen, dass man ihn los sein will.
Und da wagt Dr. Müller zu fragen, ob man "eigentlich noch loyaler verfahren könne". Es war auch ihm klar, dass Küster, der schon vor Jahren einen Ministerialdirektorposten im Bund hätte haben können, dem das Justizministerium eine Ministerialdirigentenstelle in Aussicht gestellt hatte, das Angebot als Ministerialrat Beamter zu werden, als bewusste Kränkung empfinden und ausschlagen würde. Aber gerade das wünschten er und der Justizminister, mit der Ablehnung der Ministerialratstelle durch Küster war der Weg zur Kündigung des Mandatsvertrages frei. Sie wurde am 28. Juni 1954 auch ausgesprochen mit Wirkung auf den 31. Dezember 1954.
Für Küster war aber ein anderer Vorgang noch schwerwiegender. Schon im November 1953 hatte der Finanzminister verlangt, dass die zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Zukunft gemeinsam mit dem Finanzministerium und im Benehmen mit den sonst beteiligten Ministerien zu erlassen seien. Ein solches Verlangen widerspricht der Bestimmung des § 88, Abs. 2 BEG.
Obwohl eine vom Ministerrat am 11.l.1954 mit der Prüfung der Frage beauftragte kleine Kommission vorgeschlagen hatte, einen Beirat beim Justizministerium zu bilden, der aus dem Oberlandesgerichtspräsidenten a. D. Perlen und je einem Vertreter des Justiz- und Finanzministeriums bestehen und den Justizminister in Wiedergutmachungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder von besonderer Wichtigkeit beraten sollte, und, obwohl Küster sich bereit erklärte, der Empfehlung der Kommission zu folgen, erließ der Ministerrat am 28.6.1954 folgenden Beschluss: "Bevor vom Justizministerium allgemeine Anordnungen von erheblicher finanzieller Bedeutung auf dem Gebiete der Wiedergutmachung erlassen werden, ist das Einvernehmen mit dem Finanzministerium herzustellen."
Der Ministerpräsident und der Justizminister wussten, dass Küster einen solchen Beschluss für eine Verletzung des BEG ansehen und sich ihm nicht beugen und auch deshalb auf der Ablehnung seiner Verbeamtung beharren würde.
Der Großangriff
Man hatte also gekündigt und konnte nun daran gehen, die Leitung der Wiedergutmachung einem Beamten - einem Ministerialrat - zu übertragen. Der Justizminister hatte auch schon einen bestimmten Mann seines Ministeriums im Auge. Die Regierung beantragte beim Landtag in einem Nachtrag zum Justizetat eine zusätzliche Ministerialratstelle. Aber siehe da, es ergaben sich unerwartete Schwierigkeiten. Die Öffentlichkeit reagierte empfindlich, und in der Sitzung des Finanzausschusses vom 6.7.1954 wurde bezweifelt, ob das Vorgehen der Regierung richtig sei. - (Dr. Müller behauptet in seiner, in der Nummer 187 der Stuttgarter Zeitung vom 13. August 1954, veröffentlichten Erklärung, in der Sitzung des Finanzausschusses habe die Kündigung des Mandatsvertrages gar nicht zur Debatte gestanden, sondern lediglich die Schaffung einer Beamtenstelle für den Leiter der Wiedergutmachung. Wie er eine solche Behauptung aufstellen kann, ist mir unerfindlich. Der Landtag möge das Protokoll über diese Sitzung veröffentlichen, dann kann jedermann lesen, dass Dr. Müller seitenlange Ausführungen darüber gemacht hat, dass man das Mandatsverhältnis nicht habe fortsetzen können, d. h. doch wohl, habe kündigen müssen. -) Dr. Müller und Dr. Haußmann erklärten sich bereit, in einer vertraulichen Sitzung des Finanz-Ausschusses über die Gründe des Nachtrags zum Haushalt der Justiz zu berichten.
Warum nun so geheimnisvoll?
Das hatte seinen guten Grund. Dieser lag darin, dass der Ministerpräsident die Ermittlungsberichte des Landgerichtspräsidenten Dr. Teufel zur Stützung seiner in dieser Sitzung gegen Küster vorzubringenden Vorwürfe verwerten wollte. Wie es zu diesen Berichten kam, ist in meinem, in der Nummer 185 der Stuttgarter Zeitung vom 11. August 1954 erschienenen Artikel, dargestellt.1 Justizminister Dr. Haußmann erklärte, die Berichte seien im Justizministerium ohne irgend weitere Verfügung zu den Akten genommen worden, da auf sie hin "keine Rechtsanwalt Küster benachteiligende Maßregel zu treffen war". Deshalb seien sie ihm aber auch auf keinen Fall hin mitzuteilen gewesen.
Gut, unterstellen wir das einmal. Dann hätten sie aber auch bei den Akten des Justizministeriums bleiben müssen, und der Ministerpräsident hätte sie bei seinen Darlegungen im Finanzausschuss nicht einmal erwähnen, geschweige denn benützen dürfen. - Das hat er aber getan, ohne vorher Küster dazu gehört zu haben. Bis heute konnte sich Küster zu den Vorwürfen, die ihm Dr. Müller in dieser Sitzung gemacht hat, noch nicht äußern. Einige dieser Vorwürfe will ich kurz anführen:
Die Weigerung des Bundesfinanzministers Schäffer, seine Mitarbeiter an Sitzungen der Bundesratsausschüsse teilnehmen zu lassen, wenn Küster anwesend sei, legt Dr. Müller diesem zur Last, statt Schäffer auf das Verfassungswidrige einer solchen Anordnung hinzuweisen.
Er behauptet, Küster habe gegen Entgelt Gutachten für Privatpersonen erstattet. Beim Beamten sei klar, dass er sich mit einem solchen Verhalten der einfachen Bestechung, mindestens aber eines erheblichen Dienstvergehens schuldig mache.
Die völlige Freiheit des Schaltens und Waltens Küsters und seine völlige Unabhängigkeit hätten das Land viel Geld gekostet.
Das Gutachten Dr. Teufels sei sehr aufschlussreich; wenn man es richtig werte, sei festzustellen, dass es immer heiße, es sei nichts zu machen, weil Küster nicht Beamter sei; er - Müller - wolle die große Zahl von Einzelfällen, in denen Schaden entstanden ist, nicht anführen, weil es sich dabei um Beträge von nur einigen Tausend Mark handle.
Genug damit, es sind noch mehr Vorwürfe darin enthalten, für die kein Beweis erbracht ist und die kein mit einer so großen und verantwortungsvollen Aufgabe betrauter Mann auf sich sitzen lassen kann.
Nur zwei Beschwerden Dr. Müllers seien noch erwähnt. Er kann es nicht verstehen, dass Küster in Frankfurt, in einem Vortrag am 9. Juni 1953, seine Auffassung über die Wiedergutmachung dahin zusammengefasst hat:
"Die Geschichte interessiert sich für Tatsachen, und wer mit der wortreichen deutschen Wiedergutmachung befasst ist, den packt geradezu ein Heißhunger nach Tatsachen, nach Verwirklichung des Rechts, um es ganz nüchtern zu sagen, nach Schreiben mit amtlichen deutschen Briefköpfen, deren letzter Satz lautet: ,Der Betrag wurde Ihnen zur Zahlung angewiesen'."
Wer sich an dieser ins Schwarze treffenden Forderung für die Wiedergutmachungspraxis ärgert, der deckt unfreiwillig seine innere Einstellung auf, die nichts anderes besagt als das: vorsichtig und mit zugeknöpften Taschen an die Bezahlung der Ehrenschuld des deutschen Volkes herangehen.
Und schließlich kreidete Dr. Müller Küster den Freiburger Vortrag vom 2.12.1953 schwer an. Wer sich über diesen Vortrag ärgert, der beweist damit nur, dass sein Wiedergutmachungswille schwächlich ist, auch wenn er ihn für kräftig hält.
Und der gleiche Mann, der diese Stellung im Finanzausschuss eingenommen hat, will glauben machen, im Falle Küster hätte eine Verschiedenheit in der grundsätzlichen Auffassung über die Wiedergutmachung nicht bestanden und keine Rolle gespielt.
In diesem Zusammenhang muss ich noch folgenden Vorgang erwähnen. In dem Entwurf der Regierungserklärung stand der Satz: "Die Regierung wird die Wiedergutmachungsarbeit mit dem bisherigen Ernst weiterführen."
Diesen Satz hat der Ministerpräsident aus dem Entwurf gestrichen. Er begründet es damit, dass er keine Selbstverständlichkeiten sagen wollte. Abgesehen davon, dass das "bisherig" nicht so ohne weiteres selbstverständlich war, hatte doch der Justizminister zu Küster gesagt, der Ministerpräsident wünsche, dass sich Baden-Württemberg in der Wiedergutmachung nicht mehr so vordränge wie bisher, das gehöre zu den Richtlinien der Politik.
Wenn ich all das zusammenhalte, glaube ich, dass der Ministerpräsident jetzt wirklich glaubt, er habe den Satz als selbstverständlich gestrichen, dass er aber anderer Meinung war, als er ihn strich. Der Großangriff hatte Erfolg. Die weit überwiegende Mehrheit des Ausschusses hat die Kündigung gebilligt und der Schaffung einer neuen Ministerialratstelle zugestimmt.
Der Stoß "aus dem Hintergrund"
Die Entlassung Küsters stieß in der Öffentlichkeit auf entschiedenen Widerspruch. Einigen einflussreichen Abgeordneten kamen Bedenken. Sie vereinbarten, für den Leiter der Wiedergutmachungsabteilung eine B 7a-Stelle (Ministerialdirigent) zu schaffen, die Küster wohl anzunehmen bereit gewesen wäre. Außerdem sollte ein Beirat beim Justizministerium für allgemeine Erlasse in der Wiedergutmachung gebildet und damit die Bindung an das Finanzministerium ersetzt werden. Alles schien sich in Wohlgefallen aufzulösen und Ministerpräsident und Justizminister fanden sich angesichts der Reaktion in der Öffentlichkeit damit ab, dass Küster Leiter der Wiedergutmachungsabteilung bleiben würde.
Da kam ihnen aber der bekannte Brief Küsters an Professor Böhm sehr gelegen. Ein Journalist hatte unter Vertrauensbruch gegenüber einem Kollegen, der den Brief von Küster vertraulich erhalten hatte, eine Abschrift dieses Briefes angefertigt und sie dem Ministerpräsidenten während eines Gespräches über den Fall Küster gezeigt. In diesem Gespräch erklärte sich Dr. Müller bereit, dem Journalisten den Briefwechsel vom Herbst 1952 zwischen ihm und Küster zur Einsicht zu überlassen. Als der Journalist auf dieses Angebot am Abend des gleichen Tages zurückkam, erhielt er den Briefwechsel. Dr. Müller bat ihn aber, ihm die Abschrift des Briefes an Professor Böhm zu überlassen. Als der Journalist den Briefwechsel von 1952 eingesehen hatte, schickte er ihn an Dr. Müller zurück, legte seine widerrechtlich erlangte Abschrift des Briefes an Professor Böhm bei und bemerkte allerdings darauf: "Mit der nötigen Diskretion zu behandeln." So die Darstellung des Journalisten. Sie ist von mir in öffentlicher Landtagssitzung vorgetragen worden, ohne von Seiten der Regierung widerlegt worden zu sein. Wie sagt doch Dr. Müller in seinem Brief vom 16. Oktober 1952 an Küster:
"... da das so beliebte Verfahren, aus dem Hintergrund über irgendwelche Äußerungen, besonders vertraulicher Art, einem Dritten zu berichten, schon maßloses Unheil angerichtet hat."
Es gibt noch ein anderes beliebtes Verfahren: nämlich "aus dem Hintergrund" über einen Dritten Äußerungen besonders vertraulicher Art zu tun, die diesen in schlechtem Lichte zeigen sollen, die er aber beileibe nicht erfahren darf. Herr Küster hat Unglück, er wurde offensichtlich ein Opfer dieser beider so beliebten Verfahren.
Die Art, wie Dr. Müller in den Besitz der Abschrift des Briefes an Professor Böhm kam, entspricht zweifellos dem für den Handel geltenden alten lateinischen Satz "do ut des", ob allerdings auch dem französischen "noblesse oblige", der für Ministerpräsidenten gelten sollte, das ist zweifelhaft.
Solche Zweifel müssen auch dem Justizminister gekommen sein, und deshalb hat er wohl in seine in "Bericht über die Beziehungen zwischen Rechtsanwalt Küsterund dem Lande" den Vorgang so geschildert:
"Da wurde dem Staatsministerium am 28. Juli 1954 von einem Journalisten die Abschrift eines Briefes übergeben, mit dem Bemerken, Rechtsanwalt Küster habe ihm die Abschrift zur pressemäßigen Verwertung überlassen", ferner die Einlassung Küsters wie folgt wiedergegeben:
"Ich anerkenne die Echtheit des Briefes. Von einigen unerheblichen Schreibfehlern abgesehen, stimmt er mit dem von mir geschriebenen Brief wörtlich überein. Der Brief diente mir außerdem als Unterlage für ein Gespräch, das ich mit den Journalisten K. und S. geführt habe. Es kann sein, dass der Journalist K. eine Abschrift des Briefes mitbekommen hat, nicht aber der Journalist S.",
und daraus die Schlussfolgerung gezogen:
"Aber auch so ist die verantwortliche Äußerung des Herrn Rechtsanwalts Küster ein volles Eingeständnis der Tatsache, dass er den Brief der Presse zur Verwertung übergeben hat."
Das ist eine ganz schlimme, grob fahrlässige Irreführung der Leser und eine dem Unterbewusstsein entsprungene, zur Beruhigung des eigenen Gewissens dienende Selbsttäuschung.
Zunächst hat Küster nicht ein Gespräch mit beiden Journalisten geführt, sondern nur mit dem einen, den er kannte und dem er vertraute. Diesem hat er auch den Brief, der ja außer den beleidigenden Wendungen eine ausführliche Sachdarstellung enthält, zur Unterrichtung mitgegeben - was begreiflich ist, man ist manchmal müde und will schon oft Dargelegtes nicht noch einmal mündlich erörtern. - Dass dieser Journalist den Brief diskret zu behandeln hatte, darüber waren er und Küster sich einig. Nun könnte es ja sein, dass der zweite Journalist der Wahrheit zuwider gesagt hat, der Brief sei ihm zur "pressemäßigen Verwertung" überlassen worden. Das ist aber nach den Umständen, unter denen er dem Ministerpräsidenten, nicht dem Staatsministerium, den Brief überlassen hat, höchst unwahrscheinlich. Der Journalist hätte sonst kaum auf die Briefabschrift den Vermerk gesetzt "diskret zu behandeln". Der Justizminister hat offenbar das sehr richtige Gefühl, die fristlose Aufhebung des Vertrages ist nur gerechtfertigt, wenn Küster den Brief tatsächlich zur "pressemäßigen Verwertung" im vollen Umfang aus der Hand gegeben und die Mitteilung der beleidigenden Kritik der Regierung an andere und die Öffentlichkeit gewollt hat. Das hat er aber gerade nicht getan. Und es ist ein alarmierender Vorgang, wenn ein Justizminister das, von dem er zwar wünscht, es möchte so geschehen sein, was aber nicht so geschah, fahrlässig als Tatsache hinstellt.
Der Ministerpräsident und der Justizminister, der sich durch die Gegenwart des hochbegabten, tüchtigen und energischen Mannes in seinem Ministerium bedrückt fühlte, wollten Küster nicht wohl, sie wollten ihn in seinem Arbeitsgebiet einengen und unter Aufsicht stellen. Sie haben keine tauglichen Versuche unternommen, ihm das Bleiben zu ermöglichen, sondern ihm zunächst in der Form und dann auch in der Sache unbillige Bedingungen gestellt, dann hat der eine in einer vertraulichen Sitzung eines Landtagsausschusses schwere unbewiesene Vorwürfe gegen Küster erhoben, gegen die sich dieser nicht wehren konnte, und der andere hat dazu geschwiegen, obwohl er zum mindesten einige der Vorwürfe sofort hätte widerlegen können. Und schließlich haben sie, als der gekränkte und empörte Mann einem Freund gegenüber seinem Zorn Luft machte und sie davon auf sehr unnoble Art sich genaue Kenntnis verschafft hatten, ihm den Stuhl vor die Türe gesetzt. Das ist die Wahrheit im Fall Küster. Die Regierung hat in dem Oberlandesgerichtspräsidenten a. D. Perlen einen sehr guten Nachfolger für Küster gefunden. Aber an den hatten Ministerpräsident und Justizminister ursprünglich gar nicht gedacht. Sie wollten ja einen Beamten, den man hätte disziplinieren können - einen Ministerialrat. Um eine solche Stelle hatte man ja - überflüssigerweise, wie sich jetzt zeigt - mit dem Nachtrag zum Etat den Landtag ersucht. Herr Perlen ist im Ruhestand, er wird als Angestellter oder nur kraft besonderen Auftrags tätig sein, jedenfalls nicht als Ministerialrat. Er steht ja auch rangmäßig weit über einem solchen. Herrn Perlen hat man bemüht, um die Erregung im Land, im Bund und im Ausland zu dämpfen und um zu beweisen, dass man den Kurs in der Wiedergutmachung nicht sichtbar ändern will - dazu hätte man auch gerade jetzt den Mut nicht. Aber nicht verschwiegen soll werden, dass sie es Küster verdanken, wenn Perlen sich der Aufgabe, deren Übernahme er zunächst abgelehnt hatte, nicht versagte. Er übernahm sie, weil Küster ihn gebeten hatte, es um der Sache willen zu tun.
So hat Küster noch feurige Kohlen auf das Haupt seiner Widersacher gesammelt (Röm 12,20).
Ich habe mich deutlich und scharf geäußert. Ich tat es nicht, um zu verletzen und zu kränken. Mit diesem Beitrag will ich aufrütteln, zur Besinnung und zur Selbstprüfung aufrufen. Es betrübt mich, wenn ein tüchtiger, um Volk und Land höchst verdienter Mann wie der Ministerpräsident so daneben greift. Das dadurch bei vielen erschütterte Vertrauen kann wieder hergestellt werden und sein Ansehen könnte nur gesteigert wer den, wenn er als Politiker und Christ einsähe: Im Falle Küster gibt es nur eine richtige Lösung und die heißt: "Wiedergutmachen".
Nachwort der Schriftleitung:
Es ist uns nicht ein Vergnügen, diese Nummer des Rundbriefs herauszugeben, die einen solch bedauerlichen Sachverhalt, wie den ,Fall Küster', zum Gegenstand hat. Wir befassen uns nicht damit so eingehend, um eine Kluft noch tiefer aufzureißen, sondern in dem Bewusstsein unserer verpflichtenden Aufgabe, und wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sich noch eine Brückebauen lässt, die zu einer vollen Rehabilitierung Küsters führt und die Herrn Küster wieder ein Wirkungsfeld öffnet, auf dem er wirklich unersetzbar ist.
- "... Aus dem ,Fall Küster' ist unversehens ein ,Fall Regierung' und ein ,Fall Landtag' geworden. Warum und wieso das? Weil beide einen der obersten Grundsätze jedes Rechtsstaates gröblich verletzt haben, den Fundamentalsatz nämlich, ,audiatur et altera pars'. Dazu hin haben der Ministerpräsident und der Justizminister versucht, diesen Tatbestand mit dünnen ,Juristenfündlein' zu verschleiern. Das ist ihnen auch weithin gelungen. Deshalb muss der einfache Tatbestand einer weiteren Öffentlichkeit klargelegt werden. Ein ehemaliger Angestellter der Wiedergutmachungsabteilung hat beim Justizministerium schwere Vorwürfe gegen seinen früheren Vorgesetzten Küster erhoben. Das Ministerium kam dadurch in einige Verlegenheit. Es sah ein, dass man mit der Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens der Anzeige ,zuviel Ehre erwiesen und Küster unrecht getan hätte; es glaubte, kein Disziplinarverfahren einleiten zu dürfen, weil Küster nicht Beamter war. So kam es auf den Ausweg, für den es sich der Zustimmung Küsters versicherte, die Anwürfe durch einen Landesgerichtspräsidenten nachprüfen zu lassen. Das Ministerium sah das ursprünglich - anders als jetzt - offensichtlich als eine Art vereinbarter dienstrechtlicher Untersuchung an, wobei beide davon ausgingen, dass Küster zu dem Ergebnis der Nachprüfung gehört werden müsse, und nicht nur sich anfangs zur Anzeige H. sollte äußern können. Jeder Angeschuldigte kann sich zum Ergebnis der gegen ihn geführten Ermittlungen äußern, bevor die Hauptverhandlung gegen ihn stattfindet, sogar der mehrfach vorbestrafte Schwerverbrecher ..." (Aus: Die Regierung und der Fall Küster, a. O.)
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VII. Folge, 1954/1955, Nr. 25/28, S. 18-23